28. Kapitel

Jagd


  Der Jagdinstinkt ist zumindest bei mir tief in den Genen abgelagert - auch das wahrscheinlich ein Ergebnis der langen Dauer ("longue durée") der familiären Jagdtradition über mehr als 8 Jahrhunderte hinweg.

Erinnerung:

  Ich wachte um 04:15 auf, die richtige Zeit, um noch bei Dunkelheit eine Kanzel im Jagdrevier zu erreichen. Fast immer wache ich sehr früh auf, aber nicht immer zur richtigen Zeit: manchmal ist es zu früh, dann drehe ich mich um und schlafe wieder ein, manchmal ist es zu spät, dann kann ich gleich im Bett liegen bleiben.

  Heute also anziehen, zwei, drei Kekse, ein paar Schluck Wasser. Ich greife den Drilling aus dem Waffenschrank, stecke ihn ins Futteral, Schloss davor, Rucksack schnappen, Auto aus der Garage, Gummistiefel an - und los geht es. In 10-15 Minuten bin ich im Revier. Etwas abseits im Waldweg parken, Waffe auspacken, Wind prüfen, steht günstig.

  Ganz dunkel ist es heute nicht, der Mond ist viertel- bis halbvoll, wenn auch immer wieder von Wolken verdeckt. Mich dicht am Waldrand haltend bewege ich mich so leise wie möglich zum Hochsitz. Dieser besteht nur aus einer Leiter, die wir wenige Wochen zuvor aufgestellt und mit einem Tarnnetz aus Schweizer Armeebeständen verkleidet haben. Es ist schwer hinauf zu kommen. Immer hakt sich etwas im Tarnnetz fest, man braucht Geduld. Endlich bin ich oben, den Rucksack neben mir installiert, eine Sitzunterlage untergeschoben. Dann den Drilling geladen, 2 x Schrot, 1 Kugel, gesichert und in die Halterung geschoben.

  Es ist kurz vor fünf Uhr, der Wald schläft noch, Sonnenaufgang ist ca. 06:30. Wenn ich bemerkt worden sein sollte, kann man das mit absolut ruhigem Sitzen vergessen machen.

  Das Warten, das Sitzen im erwachenden Wald ist das Schönste - wenn Wetter, Wind und Menschen mitspielen. Man glaubt manchmal nicht, wer alles früh morgens durch den Wald streift: Fahrradfahrer, Hundebesitzer, Jogger o. ä.. Heute bleibt alles ruhig. Gestern und in der Nacht hat es geregnet, es ist auch verhältnismäßig frisch. Den nassen Wald mögen die Leute nicht.

  Vor mir liegt eine Wiese, ich selbst sitze, leicht zurückgesetzt am Waldrand. Rechts knickt der Wald nach etwa dreißig Metern im rechten Winkel ab, verliert sich in der Dunkelheit. In etwa hundert Meter durchzieht vor mir ein Bach die Wiese, auf beiden Seiten von Schilf, Gebüsch und einigen Bäumen eingerahmt. Links, nach ca. vierzig Metern ein hohes wucherndes Gebüsch, danach öffnet sich eine Schneise. Man könnte sagen: ein Viereck, das auf der Südwestseite teilweise geöffnet ist.

  Ich liebe ein solches Sichtfeld, weniger wegen der Jagdchancen als wegen des Gefühls, im überschaubaren Rahmen alle Eindrücke des erwachenden Waldes aufnehmen zu können. Es ist wie ein Bild, ein großes, gerahmtes Bild. Noch ist nicht viel darin zu sehen außer den unscharfen Konturen von umstehenden Büschen und Bäumen.

  Die Wiese liegt noch völlig im Dunkeln. Nichts zeichnet sich darauf ab, nicht mal liegen gebliebene Reste der Mahd, die ein paar Tagen zurückliegt. Die Füchse lieben die frisch gemähten Wiesen, weil sie hier Jagd auf Mäuse machen können. Vor zwei Wochen hatte ich ein paar hundert Meter weiter in der allerersten Dämmerung zwei Füchse geschossen. Auch Dachse treiben sich herum, einmal habe ich einen - aber auf zu große Distanz - zur Sicht bekommen.

  Verdammt, fast will ich laut fluchen, denn der sanfte Wind treibt Nebelschwaden über die Wiese. Bleibt der Nebel liegen, kann ich den Ansitz so gut wie vergessen. Der Herbstnebel kann zäh sein, vor allem in der Bodenseeregion. Dann ist die Sicht so schlecht, dass man nur Schemen wahrnimmt, wenn überhaupt etwas. Aber ich habe Glück: nach etwa 20 Minuten löst sich der Nebel auf und verliert sich im Wald.

  Allmählich zeigen sich erste dunkle Flecken auf der Wiese, irrlichternde Schatten, die von Überresten der Mahd stammen. Bewegt sich etwas, könnte es auch ein Fuchs oder Dachs sein. Meine Konzentration und Spannung steigt.

  Im Wald rechts von mir höre ich es knacken, zunächst leise, dann wieder nichts, bald aber deutlich. Ein Hase? Ein Fuchs? Ein Reh? Im frühen Wald kann schon ein Hase einen ziemlichen Krach machen. Zu Beginn der Jagdzeit habe ich immer mal wieder Hasen an dieser Ecke gesehen. Auch Fasanen haben wir hin und wieder im Schilf. Deshalb müssen wir die Füchse kurz halten, sonst können wir dieses Niederwild vergessen, die Füchse räumen alles ab.

  Jetzt ist das Knacken ganz deutlich, nicht mehr zu überhören. Ich greife nach dem Drilling, um vorbereitet zu sein. Unter Umständen muss man ganz schnell schießen, das gilt besonders für den Fuchs, aber auch den Dachs. Ich entsichere - dabei stößt der Drilling "wirklich nur ganz wenig" an das Aluminium des Hochsitzes. Normalerweise würde man das gar nicht hören, aber im Frühwald ist es unüberhörbar. Ich ersterbe und erstarre. Das ist das Ende der Jagd an diesem Morgen. Und richtig: das Knacken im Wald hört auf. Wenn da Wild war, dann ist es vorgewarnt. Da tut sich nichts mehr.

  Aber ich bleibe sitzen, es ist erst halbsechs, was soll ich daheim? Die Wiese erwacht langsam, dunkle Büschel zeichnen sich ab. Der Waldrand bekommt Konturen, hier eine Fichte, dort Büsche, bald Laubbäume. Gegenüber am Bachrand ein schwarzer Punkt - taucht aber sofort wieder ab. Unmöglich zu erkennen, was es war: eine Krähe - wohl kaum - oder "was sonst"? Ich rätsele... aber ohne Ergebnis. Immer wieder starre ich in diese Richtung, aber nichts zeigt sich mehr.

  Es ist jetzt knapp vor sechs Uhr. Da - ein grauer Schatten huscht von links, von der Schneise am Bachrand entlang. Ich hebe den Drilling an, im Zielfernrohr, ein gutes lichtstarkes Zeiss-Glas, kann ich mehr sehen. Schnell habe ich das Ziel erfasst: es ist ein Stück Rehwild. Viel Zeit hätte ich nicht um zu schießen, denn es bewegt sich schnell auf den Wald zu. Jetzt verharrt es. Ich habe es klar im Ziel, ich brauche nur abzudrücken.

  Aber ich kann nicht erkennen, ob es ein weibliches Tier oder vielleicht ein Knopfbock ist. Ein Gehörn sehe ich nicht, aber - wie gesagt - es könnte ein Knopfbock sein. Auch den Spiegel kann ich nicht klar ausmachen - es könnte schon ein Knopfbock sein. Sicher bin ich nicht. Ist es ein weibliches Tier, ist nicht zu entscheiden, ob es eine führende Geiß oder ein Schmaltier ist. Schmaltiere können geschossen werden, führende Geißen erst in einigen Wochen. Selbst dann tut man es nicht, wenn die Geiß Kitze führt. Kitze führt dieses Reh nicht, das heißt aber nicht, dass es diese vielleicht irgendwo abgelegt hat.

  Ich folge dem Reh mit dem Zielfernrohr bis an den Waldrand. Noch einmal bleibt es stehen und knabbert am Gras. Ganz breit steht es da. Aber ich nehme das Gewehr herunter. Ich schieße nicht. Nein, das mache ich nicht. Dann ist das Reh im Wald verschwunden.

  Ich fühle mich irgendwie erleichtert. Ich habe ein flüchtiges Naturspektakel erlebt, es waren insgesamt vielleicht zehn Sekunden.

  Mein Ansitz hat sich gelohnt, auch wenn sich danach nichts mehr ereignet. Eine Viertelstunde später steige ich die Ansitzleiter hinunter, wieder bleibe ich am Tarnnetz hängen. Auf dem Rückweg zum Auto begegne ich dem ersten Spaziergänger mit Hund.

  Auf der Heimfahrt bin ich glücklich - auf ein andermal!




Ungerader Kronen-16er
Nach erfolgreicher Jagd und mehr als zweistündiger schwerer Pirsch in den Karpaten nordöstlich von Brasov / Kronstadt im September 2016

  Der Jagd bin ich auch fernab der heimatlichen Gefilde nachgegangen: im Elsaß und Lothringen, beidseits des Vogesenkamms, im Raum südlich von Sainte-Marie-aux-Mines (früher Markirch); in Namibia auf einer Jagdfarm namens "Schenckswerder", gegründet 1901 während der deutschen Kolonialzeit (diese Schencks waren aber keine Verwandten), in Kroatien nahe der ungarischen Grenze und in den Karpaten in Siebenbürgen / Rumänien nordöstlich von Brasov (früher Kronstadt).


  Mit Erreichen des 75. Lebensjahres habe ich die Jagd aufgegeben. Die altersbedingte, körperliche Verfasstheit machte einige mit der Jagd verbundene Tätigkeiten beschwerlich, wenn nicht ganz unmöglich: langes Pirschen in gebirgigem Gelände, das Bergen und gegebenenfalls Nachsuchen des Wildes fielen mir zusehends schwer. Jagdfreunden, die mir dann notfalls zur Hilfe kommen müssten, wollte ich nicht zur Last fallen. Die Jagdwaffen habe ich an einen jagdbegeisterten Neffen weitergegeben.