Guntram von Schenck

Hinweis: Eine zweite “erweiterte” Auflage ist in Vorbereitung!

Buch (Paperback)

GUNTRAM von SCHENCK:
AUTOBIOGRAPHIE. HISTORIKER, POLITIKER, DIPLOMAT,
RADOLFZELL 2011, 262 Seiten (ISBN 978-3-00-035303-1)
EURO 8,90 (plus Versandkosten)


Als Grenzgänger zwischen Diplomatie und Politik konnte der Autor seltene Erfahrungen und Einsichten mit dem Blick eines Historikers vereinen. Politiker wie Herbert Wehner, die deutsche Einheit 1989/1990 und das Innenleben des Auswärtigen Amtes werden ins Bild gerückt. Einige Kapitel haben zeitgeschichtliche Bedeutung.

Bestellen bei:
HÖRI-METTNAU-VERLAG
Hausherrenstrasse 32
78315 RADOLFZELL
eMail: hoeri-mettnau-verlag@gmx.de



Leseproben: Kapitel 3 und Kapitel 18


3. Kapitel



1971-1972: Karl Wienand und Herbert Wehner



Im Frühjahr 1971 meldete ich mich - nach einem kurzen Zwischenspiel als Wissenschaftlicher Planer an der Universität Konstanz - bei Herbert Wehner, dem Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, mit der Frage, ob es dort eine Verwendung für mich gäbe. Mein Brief an Herbert Wehner blieb viele Wochen unbeantwortet. Überraschend meldete sich dann das Büro von Karl Wienand, dem 1. Parlamentarischen Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, ich möge mich in Bonn vorstellen. Karl Wienand war - so hieß es - die rechte und linke Hand von Herbert Wehner. Mit Karl Wienand führte ich ein etwa halbstündiges, lockeres Gespräch, in dem ich auch auf meine Vergangenheit in der Studentenbewegung hinwies und wörtlich sagte, ich hätte alles von A bis Z mitgemacht. Lächelnd und mit einer Handbewegung wischte er das beiseite. Er bat dann, im Plenum des Bundestages anzurufen. Dort wurde ich in der Lobby platziert und wartete. Nach wenigen Minuten erschien Herbert Wehner, der wie immer im Plenum gesessen hatte, knurrig und, wie mir schien, misstrauisch. Ich erhob mich rasch, ergriff und schüttelte ihm die Hand, ehe er sich richtig versah,


Anwesend waren außer Wienand auch Thea Kox. Sie war eine Art Fraktionsfaktotum, die, wie ich später erfuhr, die Verwaltung der Fraktion leitete, und nebenbei einen grimmigen Hass auf die linken Studenten nährte; sie sollte in das Gespräch und seine eventuellen Ergebnisse eingebunden werden. Ich schilderte kurz meinen Werdegang und kam auf meine Motivation zu sprechen, als Herbert Wehner explodierte. Wer sich an seine Auftritte im Bundestag erinnert, kann sich leicht vorstellen, zu welch furioser Wut er sich steigern konnte. Die Invektiven, die er auf die linken Studenten losließ, waren beeindruckend: verantwortungslose Hampelmänner gehörte noch zu den zurückhaltenden. Wer ihn kennt, weiß, dass ihm ein schier unerschöpflicher Vorrat an Kraftausdrücken zur Verfügung stand, im Zweifel erfand er Neues. (Eine gute Sammlung findet sich im Spiegel, 12. Juli 1976, S. 41.) Er steigerte sich gerade wieder und schien einen Augenblick nach etwas Treffendem zu suchen, als ich ihm mit dem Ausdruck Lumpenbourgeoisie zu Hilfe eilte. Er guckte mich an, entspannte sich sofort und fing an zu lachen. Ich hatte gewonnen. Dass es in der Abwandlung der Diktion von Karl Marx nach dem Lumpenproletariat, das der Arbeiterklasse in den Rücken fiel, nun auch eine Lumpenbourgeoisie gab, die dem Bürgertum zusetzte, erheiterte ihn. Ein paar Jugenderinnerungen müssen ihm gekommen sein. Karl Wienand und Thea Kox wurden beauftragt, mit mir Arbeitsbeginn, Entlohnung etc. auszuhandeln.


Am 1. September 1971 fing ich als Fraktionsassistent im Büro des 1. Parlamentarischen Geschäftsführers Karl Wienand an. Ich hatte keine spezifische Funktion, sondern war z. b.V. (zur besonderen Verwendung). Das war, so schien es mir, kein schlechter Anfang. Herbert Wehner war im Machtgefüge der SPD und wohl auch der sozial-liberalen Regierungskoalition nach dem Kanzler Willy Brandt, dem Verteidigungsminister Helmut Schmidt (der damals allerdings lange Zeit krank war), FDP-Außenminister Walter Scheel wohl der dritt- oder mindestens viertmächtigste Mann der Republik. Karl Wienand war - wie schon gesagt - Wehners rechte und linke Hand. Wehners Einfluss reichte weit über die Fraktion in die Regierung hinein. Wehner hatte mir schon immer imponiert. Sein Weg vom jugendlichen Anarchisten als Mitarbeiter von Erich Mühsam, über die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), der er schnell als leitender Funktionär diente, seine Rolle nach 1933 im antifaschistischen Widerstand, schließlich seine Zeit im Moskauer Hotel Lux während Stalins Säuberungen 1937/1938, sein Aufstieg in der SPD nach 1945 und unbedingter Machtwille hatten mich seit jeher fasziniert. Was für eine Biographie! Karl Wienand war als Jugendlicher mit Schwerbeschädigungen aus dem Krieg zurück gekehrt und hatte sich mit Fleiß, immenser Energie und politischem Gespür aus ärmlichsten Verhältnissen hoch gearbeitet. Als Verteidigungsexperte hatte er früh auf die Mängel des Starfighter-Flugzeugs hingewiesen. Bis ihm die lange Reihe tödlicher Unfälle Recht gaben, war er mit Hohn überschüttet worden und hatte eine schwierige Phase der Isolation durchzustehen. Wehner und Wienand waren - nach allem was ich seinerzeit in Erfahrung bringen konnte - nach meinem Geschmack.


Paninter


Es hätte so gut laufen können. Tat es aber nicht. Wenige Tage nach meinem Eintreffen zerschellte am 6. September 1971 ein Flugzeug der Münchner Charterfluggesellschaft Paninternational beim Versuch einer Notlandung auf der Autobahn Hamburg-Kiel. 22 Menschen kamen bei diesem spektakulären Absturz zu Tode. Die Ursache wurde rasch bekannt: Wegen Wartungsfehlern waren die beiden Triebwerke der BAC 1-11 ausgefallen. Schnell kamen Gerüchte einer Verbindung zu Karl Wienand auf. Obwohl gravierende Mängelrügen bekannt waren, sei der Flugbetrieb der Chartergesellschaft nur wegen der Interventionen Karl Wienands aufrecht erhalten worden. Ein lukrativer Beratervertrag mit der Chartergesellschaft habe Wienand zu diesen Interventionen veranlasst. Das wurde dementiert. Karl Wienand tauchte auf Geheiß Wehners für längere Zeit krankheitshalber ab.


Die CDU/CSU-Opposition ließ sich diese Gelegenheit natürlich nicht entgehen. Ein Untersuchungsausschuss des Bundestages wurde eingesetzt. Er stellte binnen kurzem wiederholte und intensive Interventionen Wienands beim Luftfahrt-Bundesamt in Braunschweig zugunsten der Chartergesellschaft fest. Die Magazine Stern und Spiegel entdeckten und dokumentierten bald mehrere größere Zahlungen der Chartergesellschaft Paninternational an Wienand. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben selten ein einhelliges Ergebnis, so auch dieses Mal. Der Untersuchungsausschuss hatte aber Fakten herausgefunden, aus denen jeder seine Schlüsse ziehen konnte. Das Ende der Legislaturperiode im Herbst 1972 bedeutete wie immer das Ende auch dieses Untersuchungsausschusses; der neu gewählte Bundestag kann, wenn er will, erneut über eine Einsetzung befinden.



Ich brauchte im Herbst 1971 nur kurze Zeit, um zu erkennen, dass an der Sache etwas dran war. Statt Einsatz für den Erfolg der Sozialdemokratie hieß das für mich Einsatz für einen Politiker, dessen Integrität für mich zweifelhaft war, ja den ich für durchweg korrupt halten musste. Mit Erschütterung nahm ich die vielen Täuschungs- und Verschleierungsmanöver wahr, die zur Rettung Wienands unternommen wurden. Einige halfen dabei, sie sollten schnell Karriere machen; wer sich sperrte sollte bald auf unerwartete Schwierigkeiten stoßen. So hatte ich mir die Arbeit in Bonn nicht vorgestellt. Ganz naiv war ich natürlich nicht. Schon als Historiker war ich auf den Konnex von Politik und Korruption gestoßen, hatte sich doch bereits der große Athener Staatsmann Perikles im 5. Jahrhundert v. Chr. im Zusammenhang mit dem Bau der berühmten Akropolis mit Korruptionsvorwürfen auseinander zu setzen gehabt. Doch Wienand war kein akademisches sondern ein ganz konkretes Problem - mit vielen Implikationen.


Mein Vertrauensverlust in die Fraktionsspitze war gewaltig. Ich hatte so etwas bei Führungsfiguren der Sozialdemokratie niemals für möglich gehalten. Der Missbrauch des Ansehens, der über die Person hinaus der SPD galt, verursachte mir täglich neue Übelkeit. Die Fallhöhe zwischen Anspruch und Wirklichkeit war einfach zu groß. Ein ausreichendes Maß an Zynismus stand mir als Berufsanfänger noch nicht zur Verfügung. Es ging auch nicht nur um Geld, der Tod von 22 Menschen war schließlich keine Bagatelle. Doch hielt ich mich an die wichtigste Spielregel im Politikbetrieb: das absolute Stillschweigen zu Insidervorgängen. Meine Außenwirkung konnte infolgedessen nicht optimal sein, viele wollten auch mit dem “Büro Wienand” nichts zu tun haben. Wienand, dem meine inneren Kämpfe offensichtlich nicht verborgen geblieben waren und Absatzbewegungen vermutete, drohte mir einmal - wobei er mit dem Finger Bewegungen machte, die auf dumme Gedanken hindeuten sollten, wörtlich: Pass auf, ich werde dich irgendwann - auf deinem Berufsweg - erwischen.


Nach allem, was öffentlich bekannt geworden war, schien mir der Abgang und Sturz Wienands ein Selbstläufer zu sein. Außerdem hatte der Wahlkampf begonnen und Parteien sind in diesen Zeiten bei Belastungen durch Affären äußerst sensibel. Schon wegen Kleinigkeiten hatte ich Politiker in Wahlkampfzeiten untergehen sehen. Auf diese Weise verlor im Wahlkampf 1972 der Parlamentarische Staatssekretär Joachim Raffert innerhalb von Stunden Posten und Mandat. Ich ging davon aus, dass der Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner die Affäre Wienand bald zu einem Abschluss bringen würde. Das hätte für mich die Befreiung aus dieser unerträglichen Situation bedeutet. Die SPD-Bundestagkandidaten, die von Zeit zu Zeit aus dem Wahlkampf in Bonn auftauchten, zitterten vor Empörung, wenn auch nur der Name Wienand fiel; sie hatten seinetwegen einiges auszuhalten.


Weigerung


Aber nichts geschah. Schließlich signalisierte ich Herbert Wehner, dass ich mich weigerte, weiter für Karl Wienand zu arbeiten und nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Dafür hatte ich wahrlich gute Gründe. Ich bat um eine andere Verwendung und zeigte mich an der Hochschulpolitik interessiert, die im Wahlkampf 1972 im Hinblick auf die Studentenunruhen eine gewisse Rolle spielte. Die Begleitumstände meiner Umsetzung waren für mich dann allerdings dramatisch. Wenige Tage später erschien wie eine Furie Thea Kox, Fraktionsfaktotum und Leiterin der Fraktionsverwaltung, mit dem Personalratsvorsitzenden Voigtländer und forderte mich auf, sofort mein Büro zu räumen. Meine Sachen wurden während meiner Abwesenheit in das Büro eines im Wahlkampf abwesenden Kollegen geschmissen. Ein Rauswurf im wahren Sinne des Wortes.


Wahlkampfzeiten sind für die Parteien Ausnahmezeiten, da passiert manches. Vielleicht schwebte Wehner das Moskauer Hotel Lux vor, dessen Gebräuche - freilich in abgemilderter Form - jemand kennen lernen sollte, der mit Begriffen wie Lumpenbourgeoisie hantierte. Die meisten hätten bei dieser Lage wohl kapituliert. Ich ging anderthalb Tage auf den Rheinwiesen spazieren, erschien zur allgemeinen Überraschung wieder in der Fraktion und setzte mich nach Kräften im Wahlkampf für die SPD Willy Brandts ein. Die SPD gewann nicht nur, sie wurde zum ersten und einzigen Mal stärkste deutsche Partei. Mein Beitrag war sicher nicht entscheidend. Aber die Wahlkampfauftritte, die ich damals mehrmals zusammen mit dem FDP-Politiker Jürgen Möllemann bestritt, waren eine interessante Erfahrung für mich.


Warum hatte ich weiter gemacht? Innerlich hatte ich mich natürlich auf eine irgendeine Aktion der Fraktionsführung eingestellt und mir vorgenommen, mich nicht einfach abservieren zu lassen. Aus der Politik wollte ich mich nicht heraus drängen lassen - schon gar nicht auf so eine Weise. Nicht mit mir und nicht so! Im anstehenden Wahlkampf wollte ich zudem mitmischen, 1972 war der emotionalste und leidenschaftlichste Bundestagswahlkampf, den die SPD je geführt hat. Schaden wollte ich der SPD unter keinen Umständen. Es war im Sommer und Frühherbst 1972 keineswegs sicher, dass die SPD triumphieren und gewinnen würde.


Nach der Wahl würde ich weiter sehen. Vielleicht war dann das sehr dünne Eis, auf dem ich mich seit dem “Rauswurf” bewegte, wieder fester geworden. Das implizierte freilich auch absolutes Stillschweigen zu den Gründen meiner Umsetzung aus dem Büro Wienand in die Bildungs- und Hochschulpolitik. Wäre da etwas durchgesickert, wäre es mit Sicherheit an die Öffentlichkeit gedrungen. Wienand stand unter heftigem Beschuss, Presse und CDU/CSU-Opposition lauerten nur darauf, Neues berichten zu können. Ein Mitarbeiter, der sich weigert, für Wienand zu arbeiten, welch ein gefundenes Fressen. Um eine Begründung wäre ich nicht umhin gekommen. Also Schweigen.


Verhältnis Wehner - Wienand


Wehner - das Rätsel! Was hat ihn veranlasst, gegen alle offenkundigen Erkenntnisse an Wienand festzuhalten? Ich hatte inständig gehofft, meine Weigerung würde letztlich zu seinem Sinneswandel beitragen. Weit gefehlt. Nach dem Wahlkampf erklärte Wehner in einer Klausursitzung der Bundestagsfraktion Karl Wienand zum ehrenwerten Mann. Es gab dazu sogar eine Presseerklärung, wenn auch in geringer Auflage. Wehner blieb Fraktionsvorsitzender, Wienand sein 1. Parlamentarischer Geschäftsführer. Aber Anfang 1973 hatten die Staatsanwaltschaft Bonn und die Steuerfahndung im Nachgang zum Paninter-Untersuchungsausschuss die Karl Wienand belastenden Fakten aufgegriffen und ermittelten wegen uneidlicher Falschaussage bzw. Steuerhinterziehung. Es ist hier nicht der Ort, die unerquickliche Geschichte neu aufzuzeichnen. Eine weitere Berater-Affäre Wienands, in die ich Einblick hatte, betraf einen Kaufmann aus Bad Honnef. Sie verlief aber schnell im Sande, weil dieser bei einem Autounfall Anfang 1972 ums Leben gekommen war.


Bald schon erschütterte ein neuer Skandal die Republik. Wienand geriet in Verdacht, beim Misstrauensvotum gegen Willy Brandt am 27. April 1971 erfolgreich Stimmen von der CDU/CSU gekauft zu haben. Das Misstrauensvotum der Opposition unter Führung Rainer Barzels war gescheitert, obwohl die CDU/CSU über eine rechnerische Mehrheit verfügte. Wieder gab es einen Untersuchungsausschuss, der die Fakten klären sollte. Da ich zur Zeit des Misstrauensvotums im Büro Wienand gearbeitet hatte, wurde auch ich als Zeuge benannt. Die Bonner Staatsanwaltschaft interessierte sich ebenfalls für meine Kenntnisse, schien mir allerdings eher im Nebel herum zu stochern. In der SPD-Bundestagsfraktion kursierte das Gerücht, Wehner habe deshalb an Wienand fest gehalten, weil er einen entscheidenden Beitrag zum Scheitern des Misstrauensvotum geleistet und die sozial-liberale Koalition vor dem frühen Aus bewahrt habe. Wenn es stimmen würde, könnte das ein Grund gewesen sein. Seit dem Berliner Mauerfall und dem Zugang zu den Ost-Berliner Akten liegt die Annahme näher, dass das Verdienst nicht Wienand sondern der Stasi zukommt. Die Stasi hatte CDU/CSU-Abgeordnete gekauft.


Warum hielt Wehner an Wienand fest? Selbst als der Widerstand gegen Wienand in den Parteigremien immer stärker wurde, verknüpfte Wehner sein politisches Schicksal mit dem Wienands: Wenn er geht, gehe ich auch. Daran gehalten hat sich Wehner freilich nicht. Nachdem 1974 Justiz und Steuerfahndung Wienands Ausflüchte in der Paninternational-Affäre widerlegt hatten und Wienands Verurteilung wegen uneidlicher Falschaussage und Steuerhinterziehung anstand, musste Wienand im Herbst 1974 das Feld räumen. Wehner aber blieb und stand Wienand auch danach bei. Solidarität kann unter Politikern sehr weit tragen, obwohl der Parteifreund oft der schärfste Konkurrent ist. Selber erfahren habe ich das, als in den 90er Jahren ein SPD-Bundestagsabgeordneter, den ich aus gemeinsamen SHB- und Juso-Zeiten kannte, wegen - vergleichsweise - Lappalien aus der Fraktion ausgeschlossen und gemieden wurde. Ostentativ habe ich mich neben ihn gesetzt. Es war mir schlicht egal, was Dritte darüber dachten. Dennoch: das Rätsel der Beziehung zwischen Wehner und Wienand bleibt ungelöst.


Nach dem Mauerfall 1989 geriet Karl Wienand erneut in das Schussfeld der Justiz. Die nun zugänglichen Akten legten eine Spionagetätigkeit für Ostberlin nahe. Wienand wurde vom Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf am 26. Juni 1996 wegen Spionage zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt, die Urteilsverkündung habe ich mir im Gerichtssaal angehört. Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil am 5. Dezember 1997. Bundespräsident Roman Herzog begnadigte Wienand drei Monate später, nachdem Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt sich für ihn verwandt hatte. Die Spionagetätigkeit Wienands soll sich mit der Zeit, in der ich in seinem Büro tätig war, teilweise überschnitten haben. Deshalb bat ich das OLG Düsseldorf um Einsicht in Urteil und Urteilsbegründung, die mir aber vom Generalbundesanwalt verwehrt wurde; er stellte anheim, später noch einmal auf die Anfrage zurück zu kommen.


Ich tue mich schwer, das Ganze nochmals in extenso aufzunehmen - es ist einfach zu unerfreulich. Interessieren würden mich allerdings die Hintergründe des Kontaktversuchs der Stasi mit mir, ein Versuch, den ich Karl Wienand und dem Leiter des Bundesverfassungsschutzes, Günter Nollau, gemeldet hatte. Die Akte, die die Stasi über mich führte und die ich einsehen konnte, enthält möglicherweise nicht alles. Noch einmal taucht der Name Karl Wienand 2002 skandalträchtig im Zusammenhang mit dem Bau der Kölner Müllverbrennungsanlage auf. Wienand war an den Schmiergeldzahlungen beteiligt gewesen und wurde zu zwei Jahren mit Bewährung verurteilt. Erst jetzt brach die SPD endgültig mit ihm, dem Parteiausschluss kam Wienand mit seinem Austritt zuvor.


Im Gestrüpp: Zehn verlorene Jahre


Bis Anfang der 90er Jahre habe ich mich zu den Vorgängen von 1971-1974 nicht geäußert, weder intern noch öffentlich. Es war die Voraussetzung für mein politisches Überleben. Das Volk liebt zwar den Verrat, nicht aber den Verräter. Ich wäre für alle Zeit gezeichnet, erledigt gewesen, wenn ich geplaudert hätte. Ich will nicht verschweigen, dass ich im Prozess des Verschweigens und Durchhaltens psychisch fast krank geworden bin. Ich wurde zum schweigsamen Eigenbrötler, hielt Abstand zu den KollegenInnen, unter denen zudem viele freudig als Claque der Fraktionsspitze agierten. Nur ganz wenige außer Wehner und dem späteren 1. Parlamentarischen Geschäftsführer und ehemaligen Bundesjustizminister, Gerhard Jahn, wussten überhaupt von meiner Weigerung, für Karl Wienand zu arbeiten. Wienands Büro betrat ich nie mehr. Als ein Akt des Widerstands und Überlebenswillens begann ich noch 1972 zu publizieren, u.a.: Leistung durch Demokratisierung (Neue Gesellschaft, 1972, 12, S.951 f.).


Der Berufseinstieg im Büro Wienand war also alles andere als optimal. Ich hatte es nicht nur mit Wienand, sondern auch mit Wehner zu tun. Und Wehner war wahrhaftig ein besonderes Kaliber. Wienand blieb auch nach Niederlegung von Amt und Mandat 1974 ein einflussreicher Mann, Wehner bis Ende der sozial-liberalen Koalition 1982 Fraktionsvorsitzender. Von beruflichem Aufstieg konnte unter diesen Voraussetzungen keine Rede sein: ich wurde behindert, ausgegrenzt, Gerüchte wurden über mich in die Welt gesetzt. Wienands früherer engster Mitarbeiter, Kurt Müller, blieb bis Anfang der 90er Jahre, d..h. dem Auftauchen der Spionagevorwürfe gegen Karl Wienand, Fraktionsassistent, von dem immer wieder Intrigen gegen mich ausgingen. Einige, die ihre Karriere den Machenschaften zum Schutze Wienands verdanken, haben mich mit ihrem Hass bis ins Jahr 2000 verfolgt, nachdem sie von meiner Weigerung, für Wienand zu arbeiten, erfahren haben. Einige beteiligten sich besonders eifrig, es lohnt sich nicht ihre Namen zu nennen


Der ehemalige Bundesjustizminister und 1. Parlamentarische Geschäftsführer, Gerhard Jahn, verdient aber Erwähnung. Er exekutierte. Vielleicht konnte er nicht anders - Herbert Wehner hatte ihm schon in den 60er Jahren bei einer passenden Gelegenheit gründlich das Kreuz heraus operiert. Jahn war beschuldigt worden, Geheimpapiere an die Presse weiter gegeben zu haben. Wehner hatte ihn gehalten, das hatte seinen Preis. Marburg war Jahns Wahlkreis, in unmittelbarer Nähe liegt auch die Stammburg meiner Familie. Möglicherweise waren ihm der eine oder andere meiner Vettern übel aufgestoßen, Sozialdemokraten waren sie gewiss keine. Jahns familiäre Geschichte wurde mir erst nach seinem Tod bekannt. Seine Mutter war als Jüdin in Auschwitz umgebracht worden, nachdem Jahns Vater sie durch die Ehescheidung des letzten prekären Schutzes beraubt hatte.


Die Mehrheit der Fraktion, die sich bei den so genannten Kanalarbeitern zusammenfand, hielten Vertreter der Hochschul- und Bildungspolitik, womit ich mich von 1973-1976 hauptsächlich befasste, generell für Spinner. Meine politische Herkunft aus der Studentenbewegung war auch nicht gerade förderlich. Schließlich galt zur gleichen Zeit der so genannte Radikalenerlass, der ehemaligen linken Studenten und Berufsanfängern den Eintritt in den öffentlichen Dienst verwehrte. Nicht wenige meiner früheren Kommilitonen fielen darunter. Ein entscheidendes Jahrzehnt ging mir verloren. Viele Kollegen zogen an mir vorbei und begannen zum Teil glanzvolle Karrieren. Einen guten Überblick gibt Helmut Herles in der FAZ vom 18.04.1980: Wie aus Bonner Dienern Herren werden. Assistenten und ihre KarrierenHerles schreibt: In der Regel freilich müssen alle diese Diener (Fraktionsassistenten) hart für ihre Herren arbeiten, ehe sie zum existentiell unabhängigen hohen Beamten oder zum souveränen Abgeordneten, zum Botschafter oder Minister aufsteigen. Peer Steinbrück, später NRW-Ministerpräsident und Bundesfinanzminister war - um nur einen Namen zu nennen - in der zweiten Hälfte der 70erJahre einige Zeit mein Kollege als Fraktionsassistent.


Mich ganz blockieren wollte die Fraktionsspitze wohl doch nicht. Vielleicht gab es Beißhemmungen wegen der Einsicht in meine Situation. Oder war es die Befürchtung, dass ich doch noch anfangen könnte zu plaudern? Mit zeitlichem Abstand wurde ein Ausplaudern freilich immer unglaubwürdiger. Gleichzeitig war mein Standing in der Fraktion gewachsen. Ich bin letztlich auf Vermutungen angewiesen. Auf Altersmilde bei Wehner konnte ich jedenfalls nicht zählen. Ich verlegte mich aufs Publizieren. Ein Essay mit dem Titel Politik und Korruption, in dem ich in ganz allgemeiner Form das Thema anging, hatte ich 1976 an die Redaktion der Frankfurter Hefte geschickt. Er wurde abgelehnt, die Frankfurter Hefte fusionierten wenig später mit der Zeitschrift Neue Gesellschaft, die von der Friedrich Ebert Stiftung herausgegeben wurde (Chefredakteur: Herbert Wehner).


Herbert Wehner


Ich war nicht der Einzige, der an Herbert Wehner litt, beileibe nicht. Unzählige Leichen säumen seinen Weg - bildhaft gesprochen . Es gab Abgeordnete, die schon nach dem ersten Gespräch mit ihm jedes weitere Fortkommen vergessen konnten. Sie merkten es nur nicht immer gleich, langjährige Beobachter schon. Er setzte die Ausgrenzung und politische Vernichtung gezielt als Machtinstrument ein, ebenso wie seine Wutanfälle. Das hatte er bereits in den 20er und 30er Jahren bei der KPD gelernt. Aber die SPD als Ganzes profitierte davon. Mit eiserner Hand führte er sie 1966 in die Große Koalition und hielt sie bis 1982 an der Macht. Ob das jemand anderem gelungen wäre, steht dahin. Abweichler in der Fraktion und Partei überzog er mit Strafaktionen, irgendwann gaben sie auf und verschwanden von der politischen Bühne.


Er überdauerte einfach alles und alle: Nicht nur 1974 den Sturz Karl Wienands, mit dessen Schicksal er sich doch so eng verbunden hatte: “Wenn er geht, gehe ich auch”. Willy Brandt musste nach der Guillaume-Affäre am 6. Mai 1974 abtreten, Wehner hatte mitgeholfen. Als Wienand einige Monate später fiel, schien Wehner einen Augenblick beunruhigt, dass Helmut Schmidt, inzwischen Kanzler, ihn kippen könnte; aber Schmidt wollte nicht. Schmidts Beziehung zu Wienand war ebenfalls sehr eng, Wienand hatte stets zwischen Schmidt und Wehner vermittelt und gewissermaßen als Brücke gedient. In der SPD-Troika: Schmidt, Brandt und Wehner war es Wehner, der Brandt immer die Schuld zuschob, wenn etwas schief lief. Die Szenen in der Fraktion, in denen Wehner grimmig auf den versteinerten Parteivorsitzen Brandt zeigte, um ihn für alles Mögliche verantwortlich zu machen, sehe ich noch heute bildhaft vor mir. Auf die Fraktion und Wehner konnte sich Schmidt verlassen. Wehner wusste auch, dass er als ehemaliger Kommunist nicht Kanzler werden konnte und dass ihm ein zweiter Kanzlersturz nicht möglich war.


Wehner ist und bleibt, trotz Wienand und allem Negativen und Dunkeln, unbestritten eine der überragenden Politiker der deutschen Sozialdemokratie. Mit Ausnahme Skandinaviens wurde er im Ausland, in den angelsächsischen Ländern, in Frankreich wenig geschätzt. Der Mann erschloss sich nicht entlang der allgemein üblichen Kategorien und Kriterien. Er war das Gegenteil eines glatten, stets lächelnden, verbindlichen Politikers heutigen Typs. Er bleibt ein Einzelfall, eine Art Findling aus den Urgründen deutscher Politik. In ihm kristallisierten sich alle Irrungen und Wirrungen deutscher Politik des vergangenen Jahrhunderts, die Verwundungen aber auch die geballte Aggressivität, etwas Polterndes und Barsches. Er war in seiner Art sehr deutsch. Irrational war er allerdings nicht: unbeirrbar verfolgte er die deutschen Interessen, die er in seiner Sozialdemokratie als Nachfolgerin der Arbeiterbewegung am besten verkörpert sah. Am ehesten haben das wahrscheinlich noch die Russen verstanden.


In der Politik lernt man oder geht unter. Irgendwann Ende der 70er Jahre war mir klar geworden, dass ich an Wehner und seinem Geschäftsführer Jahn nicht vorbeikam. Ich musste mich arrangieren, freilich ohne in Sachen Karl Wienand etwas zurückzunehmen. Geholfen hat mir meine Kandidatur für den Bundestag 1980 in Biberach / Oberschwaben, wo ich in einem sicheren CDU-Wahlkreis ohne tragfähige Absicherung auf der Landesliste, d. h. ohne Aussicht in den Bundestag gewählt zu werden, für die SPD Wahlkampf machte Alex Möller, ehemaliger Bundesfinanzminister und Ehrenvorsitzender der baden-württembergischen. SPD, legte danach ein gutes Wort für mich ein. Für den Spiegel schrieb ich einen Artikel über Herbert Wehner, in dem ich besonders auf seinen antifaschistischen Kampf und seine Zeit als Kommunist in Moskau abhob. Dafür hatte ich Wehner immer hoch geschätzt und machte in dem Essay auch keinen Hehl daraus. Das Dunkel um Wehner zu lüften, ist mir freilich in diesem Artikel auch nicht gelungen. Vielleicht hat ihn Augstein deshalb nicht genommen. Aber eine Kopie hatte ich Herbert Wehner zugespielt.


Wie auch immer: Gerhard Jahn fädelte jetzt meinen Einstieg in das Auswärtige Amt (AA) ein. Der Vertrag mit dem AA war zunächst befristet. Wäre die SPD nicht schon im Herbst 1982 durch eine schwarz-gelbe Koalition unter Helmut Kohl abgelöst worden, hätte wahrscheinlich schon damals die Übernahme ins Auswärtige Amt in eine dauerhafte umgewandelt werden können. Ich hatte also die lange Durststrecke überstanden und dem Zorn Wehners getrotzt, ohne in Sachen Wienand auch nur ein Jota nachzugeben. Ob erste Auswirkungen der Alzheimer Krankheit Wehners schon 1981 eine Rolle gespielt haben könnten, weiß ich nicht. Wehner war nicht irgendwer. In meinen Augen war das ein großer Sieg. Nach meiner Kenntnis können das nur ganz wenige von sich sagen. Mein Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein war damit gewaltig gewachsen.


Wie ich erfuhr, hat mein unveröffentlichter Artikel Wehner veranlasst, seine 1946/1947 verfassten Erinnerungen über seine Zeit als Kommunist, die bisher als Graue Mappe im Giftschrank gelegen hatten, unter dem Titel Zeugnis zu veröffentlichen. Ich erhielt ein Exemplar mit der persönlichen Widmung: Guntram von Schenck mit besten Wünschen und in Dankbarkeit, Herbert Wehner, 8.VI. 82.



Wenn es richtig ist, dass das Leben vorwärts gelebt, aber rückwärts verstanden wird, bleiben doch einige Fragen: Wie hätte ich mich in Sachen Wienand anders entscheiden oder verhalten können, ohne unter den gegebenen Umständen ganz aus der Politik auszuscheiden und ohne 1972 den Wahlkampf Willy Brandts zu beeinträchtigen? Welchen Hinweis hätte mir wohl ein Niccolo Machiavelli gegeben? Carlo Schmid, einer der Väter des Grundgesetzes und 1972 Vizepräsident des Deutschen Bundestages, hatte mir geraten, bis zum Ende bei Karl Wienand zu bleiben. Soviel Zynismus stand mir nicht zu Gebote. Was bleibt, sind zehn verlorene Jahre, die ich nie wieder aufholen konnte.




2001-2006: Deutsche Vertretung Rom



Mit dem Eintritt ins Auswärtige Amt (AA) hatte ich schon die Absicht verbunden, alsbald auf einen Auslandsposten zu wechseln. Die Funktion eines Beauftragten für den Barcelona-Prozess war für mich nur eine Übergangsposition gewesen, die es mir erlauben würde, das Innenleben des AA besser kennen zu lernen. Auf einem Auslandsposten sind solche Kenntnisse und Erfahrungen von großem Wert. In Vorgesprächen hatte ich eine deutliche Präferenz für den Mittelmeerraum zu erkennen gegeben. Dort hatte ich mich seit meinen Jugendreisen bewegt. Viele Privat- und Dienstreisen hatten mich ans Mittelmeer und immer wieder nach Rom geführt. Als mir Rom angeboten wurde, habe ich ohne Zögern eingeschlagen. Rom hatte als Stadt alles, was ich mir wünschen konnte. Meine jüngere Tochter würde in Rom die Deutsche Schule besuchen können, musste also bei einer Übersiedlung nicht das Schulsystem wechseln. Ein Schulwechsel ist für Kinder immer eine Belastung, ein fremdes, neues Schulsystem eine noch größere. Rom war für mich als Historiker zudem eine historische Kulisse, die vom Altertum bis in die Moderne grandioser nicht sein konnte. Allein die kunsthistorischen Zeugen der Vergangenheit bieten Stoff für mehrere Forscherleben.


Als mir Rom angeboten wurde, war mir neu, dass es dort eine deutsche Vertretung bei den Internationalen Organisationen der Vereinten Nationen (VN) gab. Es ist neben den Botschaften beim italienischen Staat (Quirinal) und dem Vatikan die dritte Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Rom. Sie war noch relativ unbekannt, weil sie erst nach der Wiedervereinigung 1992 gegründet worden, um dem gewachsenen politischen Gewicht Deutschlands Rechnung zu tragen. Wir waren 1992 mit Frankreich, Großbritannien, den USA, aber auch den Niederlanden gleichgezogen, die bei den VN-Organisationen in Rom schon Vertretungen hatten. Die in Rom angesiedelten Internationalen VN-Organisationen: die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), das Welternährungsprogramm (WEP) und der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) hatten Aufgaben, die bisher nicht zu meinen Interessengebieten gehörten. Mein einziger inhaltlicher Bezug zur künftigen Tätigkeit war die Forstwirtschaft, da wir in der Familie einen größeren Waldbesitz geerbt hatten, dessen Pflege ich aber interessierten (und zerstrittenen) Vettern überlassen hatte. Die Bekämpfung des weltweit noch immer grassierenden Hungers (2000 : rd. 800 Millionen Menschen) und die langfristige Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschheit waren aber jedes Engagement wert.


Die VN-Vertretung war im gleichen Gebäude wie die bilaterale Botschaft untergebracht, hatte aber die bei weitem repräsentativsten Räume inne, einschließlich einem wundervoll getäfelten Sitzungssaal. Die Verwaltung war mit der bilateralen Botschaft zusammen gelegt, was Vor- und Nachteile hatte. Mein Büro war etwa doppelt so groß wie das des bilateralen Botschafters. Der Fußboden war mit Porphyr ausgelegt. Ich kann aber nicht sagen, dass das mein (oder unser) Selbstwertgefühl sonderlich gehoben hätte. Warum die Aufteilung beim Bezug des Gebäudes so vorgenommen worden war, entzog sich meiner Kenntnis, veranlasste aber mehrfach die bilateralen Botschafter zu ironischen (neidischen?) Bemerkungen. Es mag skurril wirken, aber das Thema Botschaftsgebäude war in Rom eines der großen Themen. Zweimal hatte Deutschland in Rom nach den beiden verlorenen Kriegen repräsentative Botschaftsgebäude verloren - vor dem Ersten Weltkrieg hatten wir zum Missfallen der Italiener auf dem (heiligen) Kapitolshügel gesessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Suche nach einer neuen Repräsentanz entweder an den Italienern oder an deutschen Fiskalbeamten, vermutlich an beiden gescheitert. So saßen wir nun seit einigen Jahren im Bahnhofsviertel in einem renovierten, ehemaligen Bankgebäude. Mir hat es gut gefallen.


Die Residenz, d.h. mein dienstlicher Wohnsitz, war rd. 3-4 km vom Botschaftsgebäude entfernt und lag unmittelbar neben der Engelsburg, auf die wir vom Balkon aus einen - nachts beleuchteten - überwältigenden Ausblick hatten. Der Balkon war groß genug, um dort Empfänge für hundert und mehr Personen veranstalten zu können. Von der Residenz waren es nur wenige hundert Meter zum Vatikan und zum Petersdom. Das Centro Storico, das historische Zentrum Roms, konnte ich von der Residenz in wenigen Minuten zu Fuß über die Engelsbrücke erreichen und von dort zur Piazza di Spagna oder dem Trevi-Brunnen gelangen. Oft ließ ich mich vom Fahrer absetzen und schlenderte den Rest einer Strecke durch die alten Gassen. Auch das tägliche Leben in Rom hatte seine Reize: die Espresso-Bars, die Restaurants, der gute Wein, die Einkaufsmöglichkeiten waren einmalig. Daneben gab es den Stress des dichten, oft chaotischen Verkehrs, unter dem alle litten. Ich hatte den Vergleich mit Kairo im Kopf und fand Rom gar nicht so schlimm, zumal die Innenstadt, das Centro Storico, für den Verkehr überwiegend gesperrt war. Der Dienstwagen und der Fahrer, die mir als Botschafter zur Verfügung standen, erleichterten mir natürlich das für andere manchmal beschwerliche Stadtleben ungemein.


Die in Rom ansässigen Kulturinstitute offerierten ein reichhaltiges Angebot, das alle Freizeitwünsche abdeckte. Das Deutsche Archäologische Institut, das Deutsche Historische Institut, die Biblioteca Hertziana (Kunsthistorisches Institut), das Goethe-Institut, die Casa Goethe, die Villa Massimo wetteiferten mit den Franzosen, Briten, Amerikanern und den Italienern selbst, um den Interessierten etwas Besonderes zu bieten. Zu allen pflegte ich ein gutes Verhältnis und freute mich besonders, als das große französischen Kulturinstitut, die über der Piazza di Spagna thronende Villa Medici, nach einer langen Renovierungsphase die Neueröffnung mit einer Ausstellung meines aus Donaueschingen stammenden Landsmanns und Malers, Anselm Kiefer, wieder eröffnete. Auch die Villa Massimo, die deutschen Stipendiaten für einige Monate eine edle Bleibe bot, war renoviert worden, und entfaltete unter ihrem neuen Direktor Joachim Blüher rege und anregende Aktivitäten. Wir konnten eine Stipendiatin der Villa Massimo für die Neugestaltung des German Room, der deutschen Saals in der FAO gewinnen, und feierten den Abschluss des Projekts in den weitläufigen Parkanlagen der Villa. Das Latium, die relativ unbekannte Umgebung Roms, ergänzte mein Freizeitprogramm. Das Latium kann durchaus mit anderen Regionen Italiens, wie der Toskana an landschaftlicher Schönheit und interessanten historischen Sehenswürdigkeiten wetteifern.


Der dienstliche Bereich meines römischen Postens war weniger positiv. Die VN-Organisationen, für die ich zuständig war, gaben viel Anlass zur Kritik. Die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete FAO hatte sich unter ihren langjährigen Generaldirektoren zu einem schwerfälligen, unübersichtlichen, bürokratischen Großapparat mit mehren tausend Mitarbeitern entwickelt. Trotz des teilweise hervorragenden Potentials an hoch qualifizierten Mitarbeitern - Deutschland stellte allein rd. 70 Mitarbeiter des höheren Dienstes - war die FAO aufgrund ihrer verkrusteten Strukturen unfähig, die ihr von den internationalen Staatengemeinschaft gestellten Aufgaben auch nur annähernd zu erfüllen. Die Sicherung der Ernährungsgrundlagen der Menschheit und die Hungerbekämpfung waren wahrhaftig wichtig genug. Wer unter den Organisationen der Vereinten Nationen nach Beispielen von Ineffizienz suchte, wurde bei der FAO mehr als fündig.


Da Deutschland knapp 10% des FAO-Budgets finanzierte, sah ich es als meine dringendste Aufgabe an, einen Beitrag zum Reformprozess der FAO zu leisten. Wie andere stieß ich dabei auf die Schwierigkeit, die unterschiedlichen Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer zu einem gemeinsamen Reformprojekt zu bündeln. Hinzu kamen die Eigeninteressen des FAO-Apparats und des FAO-Generaldirektors, des Senegalesen Jacques Diouf. Die Unterstützung aus Berlin war zudem schwankend und hing von der Karriereorientierung derer ab, die für ihr Fortkommen auf das Wohlwollen des FAO-Generaldirektors setzten. Die FAO-Reform war die ganzen Jahre über ein zermürbendes Unterfangen, Erfolge waren kaum zu erkennen. Das ist freilich kein römischer Sonderfall, sondern gilt für die Reform der Vereinten Nationen und ihrer Organisationen weltweit. Trotzdem führt kein Weg daran vorbei. Etwas besseres als die Vereinten Nationen hat die Weltgemeinschaft nicht. Auch die deutsche Politik bleibt für die Durchsetzung ihrer Interessen auf die Vereinten Nationen angewiesen.


Trotz eines beachtlichen Finanzierungsanteils von bis zu 10% war unser deutscher Einfluss eher begrenzt. Nur gemeinsam mit Verbündeten war etwas zu erreichen. Ein geeignetes Instrument hätte die EU-Koordinierungsrunde sein können. Je nach Anlass traf sich diese Runde mindestens einmal im Monat, oft auch mehrmals die Woche, um eine gemeinsame Politik abzustimmen. EU-Koordinierungen hatte ich in Brüssel in der Funktion als Beauftragter für den Barcelona-Prozess bereits als mühseliges Geschäft kennen gelernt. Unzähligen Sitzungen im Bundestag und in anderen Gremien hatte ich schon beigewohnt und hatte wahrlich viele frustrierende Erfahrungen sammeln müssen. Was aber in Rom ablief, stellte alles in den Schatten. Der geneigte und unbefangene Leser kann sich freilich mit Mitleidsbekundungen zurückhalten. Ein deutscher Botschafter wird schließlich nicht nach Rom geschickt, nur um die Sonnenseiten des Lebens zu genießen. Die Sitzungen in der römischen EU-Koordinierung und in der FAO sorgten für den Ausgleich.


Für die FAO in der Bundesregierung federführend war das von Frau Renate Künast (Die Grünen) geleitete Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL, heute BMELV). FAO-Schwerpunkt des BMVEL war das “Menschenrecht auf Ernährung”. Das war an sich eine gute Sache, die aber unter den gegebenen Umständen schnell auf “Freiwillige Leitlinien für das Recht auf Nahrung” reduziert werden musste. Was folgte, war ein für die Vereinten Nationen typischer, jahrelanger Beratungs- und Konferenzzirkus, der in diesem Fall fast ausschließlich von Berlin, sprich dem deutschen Steuerzahler bezahlt wurde, und der letztlich in den o. g. “Freiwilligen Leitlinien” seinen Niederschlag fand. Manche hatten Mühe, darin einen Fortschritt zu sehen und wollten nur “heiße Luft“ bemerkt haben, die zwischen Rom und Berlin bewegt wurde. Kritisiert wurde, dass bisher kein Hungernder durch die “Freiwilligen Leitlinien” satt wurde und kein Kind vor dem Hungertod bewahrt werden konnte. Das “Menschenrecht auf Ernährung” bleibt eine Baustelle, bis zur “Nachhaltigkeit“ ist es noch ein weiter Weg.


2002 hatte das BMVEL ein kleines Budget erhalten, um in Afghanistan über die Landwirtschaft einen Beitrag zum Wiederaufbau des Landes zu leisten. Auch das war an und für sich eine gute Sache, da die FAO in den ersten Jahre nach der Intervention als “neutrale” UNO-Organisation einen guten Zugang zu den potentiellen afghanischen Empfängern hatte. Die Projekte, die das BMVEL in den ersten Jahren mit der FAO vereinbarte, waren aber zu klein, zu viele und zu disparat, um einen nennenswerten Effekt erzielen zu können. Ein Beitrag, den man mit den deutschen Geldern gut hätte leisten können, wäre die Entwicklung einer alternativen Landwirtschaft zum Mohn/Opium-Anbau in Afghanistan gewesen, wofür es in der FAO Ansätze gab. Wiederholt habe ich ab 2002 dafür plädiert. Was damals schon abzusehen war, ist heute nicht mehr zu übersehen: die wachsenden Anbauflächen für Mohn in Afghanistan korrespondieren mit dem Erstarken der Taliban, die sich über den Mohnanbau und das Opium finanzieren.


Das Welternährungsprogramm (WEP) war effizienter und straffer geführt. US-amerikanisches Unternehmensdenken hatte hier viele Jahre Regie geführt. Problematisch war allerdings die Dominanz der USA, die in der Regel auch mehr als die Hälfte der Finanzierung, vor allem in Form von Sachleistungen aufbrachten. Nicht nur Menschenfreundlichkeit stand hinter dieser Politik, denn die USA setzten über das WEP ihre Agrarüberschüsse ab und fuhren ihren Anteil jeweils zurück, wenn die Überschüsse kleiner wurden oder auf dem freien Weltmarkt gute Preise zu erzielen waren. Die kostenlose Verteilung von Lebensmitteln gefährdete und zerstörte zudem die lokale Produktion in den Krisenregionen. Die Instrumentalisierung des WEP für die US-Politik wurde im Irak-Krieg 2003/2004 vollends offensichtlich, als sich das WEP kriegsbegleitend auf die Ernährung der irakischen Bevölkerung und deren Unterbringung in Flüchtlingslagern vorbereitete. Das ist an sich nichts Schlechtes, aber nach internationalem Recht nicht Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, sondern der Besatzungsmacht, in diesem Fall der USA und ihrer Verbündeten. Kofi Anan, der UN-Generalsekretär, hatte den Irak-Krieg überdies als “völkerrechtswidrig” bezeichnet.


Der Internationale Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) war die kleinste römische VN-Organisation und wurde von Bage Lennart, einem Schweden, geleitet. Mir war IFAD gleich am Anfang durch verschwenderische Empfänge in römischen Palästen aufgefallen, Empfänge, die man eigentlich nur als “großes Fressen” bezeichnen konnte - angesichts des Hungers in der Welt eine Obszönität. IFAD war in der zweiten Hälfte der 70er Jahre gegründet worden, um Gelder der Erdöl-exportierenden Staaten in die Entwicklungshilfe zu lenken, litt aber unter der schrumpfenden finanziellen Unterstützung dieser Ölstaaten, die gleichwohl ihren maßgeblichen Einfluss behalten wollten. Auch diese Organisation litt unter einem Reformstau.


Obwohl das AA und das Bundesministerium für wirtschaftliche Entwicklung (BMZ) bekanntlich im Dauerclinch lagen, war die Zusammenarbeit mit dem BMZ, bei dem die Zuständigkeit für das WFP und IFAD lag, einfacher. Das lag sicherlich an der entwicklungspolitischen Professionalität der BMZ-Mitarbeiter und deren vergleichsweise geringe Karriereerwartung in Bezug auf die römischen VN-Organisationen. Die Ministerin, Heidi Wieczorek-Zeul, kannte ich seit Juso-Tagen, und hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihr. Konflikte gab es deshalb nicht und auch keine überflüssigen Irritationen. Sie stattete uns in Rom einmal einen mehrtägigen Besuch ab, der ihr und uns die Gelegenheit gab, sich von der jeweils besten Seite zu zeigen. Eine Zwistigkeit möchte ich allerdings nicht unerwähnt lassen, weil sie ein bezeichnendes Licht auf den den deutschen Bürokratiebetrieb auf Bundesebene wirft.


Bei Reisen von Regierungsmitgliedern und Beamten aus den Bundesressorts ins Ausland werden sog. Delegationslisten erstellt, aus denen die Rangordnung der Delegationsmitglieder, zu denen immer der Botschafter vor Ort gehört, erkennbar ist. Das AA besteht darauf, dass ein Botschafter immer und in jedem Fall höherrangig ist als ein Abteilungsleiter. Allenfalls ein Minister oder (umstritten) ein Staatssekretär stehen höher. Eine Abteilungsleiterin aus dem BMZ wollte das nicht akzeptieren und so eskalierte der Zwist bis auf die Staatsekretärebene im AA und BMZ. Letztlich wurde ein etwas merkwürdiger Kompromiss gefunden und die Abteilungsleiterin zur Leiterin der anreisenden Delegation erklärt, auf der Delegationsliste stand sie aber weiter auf Platz zwei. Diese zeit- und energieaufwendigen Spielchen sind außen stehenden Dritten nicht zu vermitteln. Es war im Übrigen das einzige Mal, dass ein Vorgang in all meinen Jahren in Rom streitig auf die Staatssekretärebene beider Ministerien gehoben wurde.


Ein wesentlich angenehmerer Teil meiner dienstlichen Tätigkeit war meine Rolle als Gastgeber für anreisende Repräsentanten unseres Staates. Angefangen vom Bundespräsidenten Johannes Rau, der mich noch aus meiner Zeit in der Hochschulpolitik kannte (er war seinerzeit NRW-Wissenschaftsminister) , über die Ministerinnen Heidi Wieczorek-Zeul und Renate Künast, Landesministern aus Baden-Württemberg und Hessen, Mitgliedern des Bundestages, darunter Peter Harry Carstensen, später Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Herta Däubler-Gmelin, Bundesjustizministerin a. D., Staatssekretären, Abteilungsleitern und der Bonner Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann konnte ich alle in entspannter Atmosphäre bei einem guten römischen Essen näher kennen lernen. Bärbel Dieckmann hatte sich für den UNO-Standort Bonn engagiert und war zum Einwerben von Unterstützung nach Rom gekommen. Die Tätigkeit eines Botschafters besteht auch in der Herstellung einer günstigen Atmosphäre, in der Zusammenführung der richtigen Personen, ggf. im Einleiten von Kompromissen und Lösungen. Nicht in alle fachlichen Einzelheiten muss und kann sich der Botschafter immer einarbeiten, dafür hat er Fachleute, seinen Stab, der ihm zuarbeitet. Schnell wird er feststellen, wer ihn gut berät, und wird seine Schlüsse daraus ziehen.


Die Jahre in Rom gingen schnell vorbei. Die Frage eines Wechsel auf einen anderen Posten hatte ich in der Personalabteilung des AA in Berlin angesprochen. Aber die vorzeitige Auflösung des Bundestags 2005 mit dem einhergehenden Stopp aller Personalveränderungen, die Probleme eines nochmaligen Schulwechsels meiner Tochter und - zugegeben - das gute Leben in Rom verhinderten das. Allzu energisch habe ich meinen Wunsch nach Veränderung in Berlin nicht vorgetragen. So ließ ich denn mein Berufsleben in Rom nach knapp sechs Jahren ausklingen, in der Stadt, in der ich die ersten Wochen nach dem Abitur verbracht und die ersten Schritte ins eigenverantwortliche Leben getan hatte.