8. Mai 1945: Tag der Befreiung?
Guntram von Schenck, April 2011

 
8. Mai 1945: Tag der Befreiung?




Anmerkungen zur Rede von Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zum Kriegsende 1945



Am 8. Mai 1945 endete der 2. Weltkrieg in Europa. Die deutsche Wehrmacht hatte bedingungslos kapituliert. Deutschland war ein Trümmerfeld, das die Siegermächte in Besatzungszonen aufgeteilt und über das sie die Regierungsgewalt übernommen hatten. Der Verlust Ostdeutschlands wurde mit der Vertreibung von 12-15 Millionen Deutschen bereits 1945 zur Realität. Jahrzehntelang galt 1945 für die überwältigende Mehrheit der Deutschen unbestritten als absoluter Tiefpunkt der deutschen Geschichte, als die Katastrophe schlechthin.

40 Jahre später deutete Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1984-1994) in einer Rede am 8. Mai 1985 das Katastrophendatum in einen "Tag der Befreiung" um. Der entscheidende Satz Weizsäckers lautete - nach einem "Blick zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit": "Und dennoch wurde von Tag zu Tag klarer, was es heute für uns alle zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft".

Es ist der Satz von der Befreiung, der elektrisiert und einen Nerv getroffen, der die Rede im In- und Ausland bekannt und berühmt gemacht hat. Er ist in Erinnerung geblieben und prägt noch heute das Bild der Präsidentschaft Weizsäckers. Nach heftiger anfänglicher Diskussion hat er sich im öffentlichen Bewusstsein festgesetzt. Es gibt wenige Reden in der deutschen Nachkriegsgeschichte von vergleichbarer Nachhaltigkeit. Als Ergebnis der Rede Weizsäckers wurde der Aspekt der Befreiung in der Wahrnehmung des 8. Mai 1945 in Deutschland dominant.

Die völlige Umkehrung der Bewertung eines historischen Ereignisses ist in diesem Fall mehr als ein bemerkenswerter Vorgang. Von der "Katastrophe", dem tiefsten Fall Deutschlands, zur "Befreiung" ist es ein sehr weiter Weg. Die von Weizsäcker vorgenommene Umdeutung wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Sie betreffen Tragweite, Tragfähigkeit und Folgen der Umwertung.



I. Wie es eigentlich war



Der große deutsche Historiker Leopold von Ranke hatte der Geschichtsschreibung die Aufgabe gestellt, die Geschichte so darzustellen: "wie es eigentlich war". Folgt man dieser Vorgabe, stellt man schnell fest, dass die Zeitgenossen die vernichtende Niederlage und die bedingungslose Kapitulation Deutschlands keineswegs als "Befreiung" erlebt haben. Die Sieger wollten Deutschland auch gar nicht befreien. Für die Sieger stand im Vordergrund, das Deutsche Reich und die Deutschen militärisch bis zur bedingungslosen Kapitulation niederzuwerfen und dann abzustrafen. Die Hauptverantwortlichen sollten als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt und hingerichtet werden. Die territoriale Amputation war schon vor Kriegsende beschlossene Sache. Die Vertreibung der Deutschen, die bereits während der Kriegshandlungen voll im Gange war, schuf vollendete Tatsachen. Obwohl die Versorgungslage nach Kriegsende in Deutschland katastrophal war, wurden u. a. Hilfslieferungen für deutsche Kriegsgefangene aus der Schweiz von den US-Besatzungsbehörden zurückgewiesen. Demontagen taten ein Übriges. Fraternisierung mit Deutschen war streng verboten usw.



Abwehrkampf bis zum Schluss

Die alliierten Sieger trafen bei ihrem Vordringen ins Reichsgebiet auf entschiedenen deutschen Widerstand. Trotz totaler alliierter Lufthoheit, dem Bombenhagel und dem Einsatz von Tieffliegern auf die deutschen Städte wurde bis zum Schluss Anfang Mai 1945 erbittert weiter gekämpft. Das galt für die Reichsgrenzen im Westen, u. a. bei Aachen im Hürtgenwald und für das Elsass, wo jedes Dorf verteidigt wurde. Das gleiche galt für den Osten gegen die vordringende Rote Armee. Im letzten Kriegsjahr hatte die Wehrmacht ebenso hohe Verluste wie in allen Kriegsjahren zuvor. In den letzten zwei Wochen vor der Einnahme Berlins hatte die Rote Armee noch einmal Verluste von 304 000 Mann. Die Wehrmacht lieferte der Roten Armee von Mitte April bis Anfang Mai 1945 noch einmal eine letzte große Schlacht. Hitler war schon tot, aber der Reichstag wurde noch über einen Tag verteidigt, nachdem die Rote Armee dort am 1. Mai das Siegesbanner gesetzt hatte. Dieser Abwehr- und Verteidigungswille - heute nicht nachvollziehbar und irgendwie auch unbegreiflich - widerspricht der Erzählung vom "Zusammenbruch", dem Bild eines zusammenstürzenden Kartenhauses, wie es von den meinungsbeherrschenden Medien in Deutschland verbreitet wird.



Erfahrung der deutschen Bevölkerung

Gewiss war die Bevölkerung - insbesondere im Westen - erleichtert, als der Krieg mit dem Vormarsch der Alliierten vorüber war. Man war noch einmal mit dem Leben davon gekommen. Natürlich bedeutete insbesondere für KZ-Insassen, überlebende Juden, Sinti und Roma, Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Verfolgte und Gegner des NS-Regimes der Einmarsch der Alliierten eine Befreiung. Für die ganz überwiegende Zahl der Deutschen aber nicht. Sie sollten die Folgen der Niederlage spüren. Es folgten bis zur Währungsreform 1948 bittere Hungerjahre, Deportationen (vor allem im Osten, aber nicht nur), Demontagen, weitere Vertreibungen u. a. aus dem Sudetenland und dem Balkan, die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, Amtsenthebungen, Einquartierungen von Angehörigen der alliierten Streitkräfte in nicht zerbombte Zivilwohnungen und Häuser etc.

Millionen deutsche Männer befanden sich nach Kriegsende noch Jahre in Kriegsgefangenschaft im In- und Ausland und kehrten zerlumpt und/oder gebrochen in die Heimat zu den Familien zurück - soweit es sie noch gab. Die letzten Kriegsgefangenen kehrten erst nach langwierigen Verhandlungen mit dem Kreml ein Jahrzehnt nach Kriegsende zurück. Die Frauen mussten sich und ihre Familien irgendwie durchbringen und haben sich nicht selten für ein wenig Essen prostituieren müssen. Die Lebensrealität war für die meisten Deutschen in den ersten Jahren nach 1945 düster. Erst allmählich besserte sich die Lage. Es hätte ihnen damals wie Hohn geklungen, wenn man ihnen die Nachkriegsjahre als Befreiung hätte verkaufen wollen.

Während sich im Westen die Last des Besatzungsregimes langsam lockerte, waren die Maßnahmen Stalins und seiner Helfershelfer im Osten nach dem Krieg besonders hart. Stalin hatte im Zusammenwirken mit Churchill schon während des Krieges die künftige deutsche Ostgrenze auf die Oder-Neiße-Linie festgelegt und im Nachhinein nochmals um Stettin zuungunsten Deutschlands verändert. 12-15 Millionen Deutsche wurden vertrieben, 1 - 1,5 Millionen verloren dabei ihr Leben. Es klingt nach Polemik, aber tatsächlich bezeichnet (und beschönigt) Weizsäcker diesen Vorgang in seiner Rede als "Wanderung".

Die mitteldeutsche/ostdeutsche Bevölkerung traf die ganze Wucht und Brutalität des Besatzungsregimes. Stalin nutzte die gleichen Konzentrationslager, die von den Nazis errichtet worden waren, um Oppositionelle, potentielle oder vermeintliche Widersacher, Dissidenten o. ä. einzusperren (Buchenwald, Sachsenhausen). Enteignungen, Deportationen, Demontagen und Willkürakte bestimmten den Alltag in der sowjetisch besetzten Zone über Jahre hinaus. Nicht einmal den deutschen Kommunisten, die den Nazi-Terror und die Säuberungen in der Sowjetunion überlebt hatten, traute Stalin. Jede noch so kleine Abweichung von seinem Führungsanspruch wurde ausgemerzt und jede Regung einer Selbständigkeit, die den verordneten Sozialismus Moskauer Prägung deutschen Gegebenheiten anpassen wollte, brutal unterdrückt.

In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen wurden nicht nur unter Missachtung grundlegender juristischer Grundsätze (z.B. Rückwirkungsverbot, nulla poene sine lege) und dem Beigeschmack von Siegerjustiz die höchsten Repräsentanten des NS-Regimes als Hauptkriegsverbrecher angeklagt, verurteilt und meist gehängt, in den zwölf sog. Nachfolgeprozessen wurde durchgängig die deutsche Führungsschicht aus Militär, Wirtschaft, Diplomatie, Verwaltung etc. vor Gericht gestellt. Besonders spektakulär war der sog. Wilhelmstraßenprozess gegen führende Diplomaten des Auswärtigen Amtes (AA), in dem Ernst von Weizsäcker, der frühere Staatssekretär des AA (1938-1943) und Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Ziel der Kriegsverbrecherprozesse war die dauerhafte Diskreditierung der deutschen Funktionseliten, soweit sie das Dritte Reich und die Kriegsanstrengungen mitgetragen hatten.

Das Kriegsende und die ersten Nachkriegsjahre können - zugegeben: zugespitzt und verallgemeinert - knapp zusammengefasst wie folgt charakterisiert werden: Die Deutschen haben sich in hoffnungsloser Lage bis zum bitteren Ende - über den Tod Hitlers hinaus - gegen die Eroberung und Besetzung ihres Landes durch die Sieger gewehrt. Die von Stalin gezogene Oder-Neiße-Linie wurde durch die Vertreibung von 12-15 Millionen Deutschen, die die Hauptlast der Niederlage zu tragen hatten, de facto festgezurrt. Kennzeichnend für die ersten Jahre des Besatzungsregimes waren Ächtung, Bestrafung und Rache an den Deutschen.



II. Umdeutung



40 Jahre nach Kriegsende wird das Jahr 1945 von Bundespräsident Richard von Weizsäcker radikal umgedeutet. Die negativen Erinnerungen verschwinden aus seiner Rede zwar nicht ganz, werden aber von einer positiven Sicht auf 1945, nämlich als "Befreiung vom NS-Regime" überlagert und verdrängt.



Menschliches Gedächtnis

Es ist ein bekanntes Phänomen, dass im menschlichen Gedächtnis unangenehme Erinnerungen in Vergessenheit geraten, verdrängt werden, während gute Erinnerungen, Glücksmomente bewahrt und aufgewertet werden. Gemeinhin wird dieser Vorgang als Verklärung der Vergangenheit bezeichnet ("früher war alles besser"), was sowohl individuell als auch kollektiv funktioniert. Man will die alten Elendsgeschichten, die mit der Niederlage und der Besatzungszeit verbunden sind, nicht mehr hören. Lieber klammert man sich an die Sage vom Wiederaufstieg im Wirtschaftswunder und - wohl am markantesten - den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954, die als emotionaler Gründungsakt der Bundesrepublik gelten kann. Das ist als allgemein menschlicher Zug verständlich und nachvollziehbar. Der große Gedächtnisverlust, die Erinnerungslücke, die vom letzten Kriegsjahr bis etwa 1948/1949 (Währungsreform/ Gründung der Bundesrepublik) reicht, hat aber noch andere Gründe.



Neue Generation

40 Jahre nach Kriegsende bestimmte eine neue Generation mit anderen Wertvorstellungen die öffentliche Meinung. Sie war in wachsendem Wohlstand, internationaler Vernetzung und demokratischen Institutionen aufgewachsen. Man muss gar nicht die 68er Generation bemühen, um diesen Wertewandel zu erklären; die 68er verstärkten und beschleunigten diesen Wandel allerdings. Historiker wissen, dass jede Generation die Geschichte neu bewertet und damit umschreibt. Was vor einem halben Jahrhundert kritisch und ablehnend gesehen wurde, erstrahlt nunmehr in hellem Licht, wird glorifiziert oder umgekehrt.

Es ist dies ein notwendiger Prozess der Selbstvergewisserung, der sich meist auch im Rahmen heftiger, generationsspezifischer Auseinandersetzungen vollzieht. 40 Jahre sind ein solcher Zeitabschnitt, wie Weizsäcker in seiner Rede selbst sagt, für eine solche Neubewertung oder Korrektur der historischen Großerzählung. Mit Weizsäckers Rede ist diese Neubewertung in aller Öffentlichkeit vollzogen worden.

Um es gleich anzufügen: Auch die nachfolgenden Generationen haben nicht nur das Recht, historische Überlieferungen zu überprüfen, sondern auch die Pflicht, sie ggf. einer kritischen Revision zu unterziehen. Das geht nicht ohne Streit und Kontroversen ab.



Geschichtspolitik

Die Geschichtsschreibung, besser Darstellung der Geschichte wird auch bewusst als Mittel der Politik eingesetzt. Beispiele gibt es zuhauf: Nach 1945 sahen einige Historiker ihre Aufgabe darin, die Durchsetzung der Demokratie schützend zu begleiten. Anderes Beispiel ist die hohe Wertschätzung, die die deutsche Ostkolonisation im Mittelalter in der Historiographie bis 1945 genoss - und zwar schon lange vor der Nazi-Zeit. In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts rückte die Erforschung und Würdigung der Karolinger, die Zeit Karls des Großen und des Frankenreichs im 8. und 9. Jahrhundert n. Chr. in den Vordergrund. Der Bezug zur damals beginnenden Europäischen Einigung war offenkundig. Lehnte man in Deutschland bis zur These von Fritz Fischer (Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961) eine klare deutsche Kriegsschuld am Ersten Weltkrieg ab, so galt danach bald das Gegenteil. Heute ist man auch davon wieder abgerückt.

Nicht immer gehen die Wandlungen des Geschichtsbildes auf bewusste Interventionen interessierter Kreise zurück. Während die kleindeutsche Geschichtsschreibung in der Nachfolge Treitschkes (Preußen als Keimzelle Deutschlands) und die Vorstellungen der Sieger von 1945 zur deutschen Geschichte (von Luther über Bismarck, Wilhelm II zwangsläufig zu Hitler) bewusst durchgesetzt bzw. ins Spiel gebracht wurden, scheinen andere historische Fakten und Ereignisse auf geheimnisvolle Weise urplötzlich mit elementarer Wucht in die Öffentlichkeit zu drängen. Vielfach war alles schon lange bekannt, die Kenntnis war auch über Fachkreise hinaus gedrungen, und doch spielte es im öffentlichen Bewusstsein keine Rolle. Das gilt für die Holocaust-Rezeption in den 1970er und 1980er Jahren und - jüngst - die Rezeption des Buches über die Vergangenheit des Auswärtigen Amtes in der NS-Zeit nach dessen Veröffentlichung im Herbst 2010 (Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes, Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, Blessing Verlag, München 2010 = Das Amt).



Vordatierung der Unheils

Weizsäcker ordnet die negativen Seiten des 8. Mai 1945 ursächlich vor allem dem Jahr 1933 zu, dem Jahre der NS-Machtergreifung: "Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen". Damals habe das Unheil begonnen. Das Unheil wird gewissermaßen auf das Jahr 1933 vordatiert. Ähnliches gilt für die zweite Vordatierung auf den Kriegsbeginn 1939, den Weizsäcker allein dem Deutschen Reich anlastet. Diese Argumentation ist in der Folgezeit oft wiederholt worden.

Aber wie weit trägt diese Vordatierung? Wer bei den Wahlen im März 1933 für Hitlers Partei, die NSDAP stimmte, hatte den 8. Mai 1945 nicht vor Augen. Politische Hellseher waren die Deutschen auch 1933 nicht. Im Übrigen erreichte die NSDAP bei den Reichstagswahlen im März 1933, als die SPD und KPD bereits massiv behindert wurden, mit 43,9 Prozent keine Mehrheit. Im November 1932 hatte die NSDAP bei den letzten freien Wahlen gar nur 33,1 Prozent auf sich vereinigen können. Die Sudetendeutschen, die Westpreußen und Danziger, die 1945 vertrieben wurden, konnten 1932/1933 gar nicht wählen, sie gehörten damals nicht zum Deutschen Reich.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - die zweite Vordatierung des Unheils - spielt in der Rede Weizsäckers eine geringere Rolle. Die Sowjetunion und der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 werden erwähnt und Stalin als Mitverantwortlicher dingfest gemacht: "Allen politisch denkenden Menschen jener Zeit war klar, daß der deutsch-sowjetische Pakt Hitlers Einmarsch in Polen und damit den 2. Weltkrieg bedeutete". Aber: "Die Initiative zum Krieg…ging von Deutschland aus, nicht von der Sowjetunion". Ungesagt bleibt, dass Stalin im September 1939 den Hauptteil der Beute schluckte.

Die Vordatierungen des Unheils auf 1933 und in geringerem Umfang auf den Kriegsbeginn 1939 trugen das ihre dazu bei, den 8. Mai 1945 zu entlasten und als einen "Tag der Befreiung" erscheinen zu lassen.



40 Jahre nach Kriegsende

Die Zeit muss reif sein, damit sich eine neue Sichtweise durchsetzen kann. 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, war die Zeit reif: Die konkreten Erinnerungen an 1945 lagen weit genug zurück. Die positiven Erinnerungen und der Stolz auf den erreichten Wohlstand, die fest etablierte Demokratie und das wiedergewonnene internationale Ansehen der Bundesrepublik machten ein Einschwenken auf Hegels - freilich umstrittenen - Satz möglich: "Was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig" (Philosophie des Rechts). Die westdeutsche Gesellschaft akzeptierte, was Wirklichkeit geworden war, und akzeptierte es als vernünftig. Nach diesem Schritt konnte auch das Jahr 1945 in einen neuen Sinnzusammenhang eingebaut werden.



III. Gründe für die Akzeptanz



Es gibt mehrere Erklärungen für die Akzeptanz der Umdeutung der Niederlage in eine Befreiung.



Zeitzeuge Richard von Weizsäcker

Mit Richard von Weizsäcker hatte ein Zeitzeuge das Wort ergriffen, der im Zweiten Weltkrieg von Anfang bis Ende mitgekämpft und die Niederlage mit erlitten hatte. Er vereinte in seiner Person die Erfahrung der Niederlage und des Wiederaufstiegs. Zweifellos verlieh dieser persönliche Hintergrund der Rede ein hohes Maß an Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit. Viele Deutsche waren in der Nazi-Zeit Mitläufer gewesen, waren als Funktionseliten und/oder Wehrmachtsangehörige in Nazi-Untaten verstrickt oder kannten aus ihrem Verwandten- oder Bekanntenkreis solche Personen. Der deutsche Faschismus war ein Massenphänomen gewesen, es handelte sich nicht um vereinzelte, verirrte Personen.

Die große Masse der Deutschen konnte sich mit Weizsäcker identifizieren, waren doch ihr Mitläufertum und ggfs. ihre Verstrickung in die NS-Untaten durch die Wiederaufbauleistung der Bundesrepublik - so wie sie es empfanden oder sahen - in etwa aufgewogen. Ganz im Sinne des neugewonnenen Selbstbewußtseins hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt wenige Jahre zuvor im Wahlkampf das "Modell Deutschland" propagiert. Die Rede Weizsäckers war für viele deshalb eine Art Befreiungsschlag. Eine wenig reflektierte Zustimmung, die in manchen Fällen die Grenze zur Begeisterung überschritt, überdehnte dann die konkreten Aussagen Weizsäckers im Sinne des Satzes von der Befreiung. Als solche wirkt sie bis heute nach.

Friede nach den Weltkriegen

Die in der Person Weizsäckers gründende Glaubwürdigkeit hätte allein wahrscheinlich nicht ausgereicht, um die realen Vorgänge von 1945 und in den Folgejahren auf so gewagte Weise zurück zu drängen und umzudeuten. Der westliche Teil Deutschlands, die Bundesrepublik befand sich nach der Gründung 1949 bis 1989/1990 in einer bemerkenswert einzigartigen Lage. Nach zwei Weltkriegen herrschte Friede. Um die Erhaltung dieses Friedens, um die Sicherheit der Bundesrepublik kümmerten sich Dritte. Letztlich war es die Nukleargarantie der USA, die mit dem Gleichgewicht der Kräfte den Frieden gewährleistete.

Nötig war nur ein Beitrag für die defensive Bundeswehr. Die Probleme der Aufrechterhaltung einer Weltordnung mit westlicher Dominanz, die auch die Voraussetzung für den Wohlstand der Westdeutschen war, war nicht Sache der Westdeutschen. In einer Art Herrgottswinkel der Weltpolitik, d.h. ohne tatsächliche eigene Verantwortung zu übernehmen, waren sie von der Last verantwortlicher Außenpolitik befreit. Kriege führten andere. Noch heute blicken einige auf diese Zeiten voller Nostalgie zurück - kein Wunder nach den Fehlschlägen und Katastrophen der jüngsten Vergangenheit. Nun konnten sich die Westdeutschen als "Friedensmacht" fühlen. Dafür waren sie dankbar.



Das Winseln der Besiegten

Die Katastrophe von 1945 konnte nicht völlig in einem Befreiungsgedanken aufgehen. Tief drinnen war das Bewusstsein der vernichtenden Niederlage und des Ausgeliefertseins an die Sieger noch immer ins Gedächtnis eingeschrieben. Wir wissen, dass Besiegte im Zustand der absoluten Ohnmacht und Zerknirschung ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen, das als "Winseln der Besiegten" bekannt ist. Sie neigen zu Demutsgesten und haben ein starkes Imitationsbedürfnis. Sie wollen die Sieger nachahmen, sich mit ihnen identifizieren. Die Sieger waren ja die Besseren, sonst hätten sie nicht gesiegt. Das gilt weltweit und ist keine deutsche Besonderheit.

Das deutsche Imitationsbedürfnis war allerdings nach der totalen Niederlage besonders stark ausgeprägt. Man denke nur an die Grablegung Adenauers, die eine Kopie der Bestattung Churchills war. Ein anderes Beispiel ist die hemmungslose Übernahme von Anglizismen in die deutsche Sprache als sog. Neuhochdeutsch. Keine andere europäische Nation macht sich auf gleiche Weise lächerlich. Die ultimative Demutsgeste der Besiegten kulminiert schließlich in dem Bekenntnis: Ja, ihr Sieger hattet Recht und mir ist Recht geschehen. Der Besiegte entlastet sich indem er den Trotz ablegt. Der Besiegte unterwirft sich endgültig. Auch dieses Moment steckt in dem Befreiungsargument.



IV. Legendenbildung



Die Krisenzeit nach einer Niederlage ist auch die Geburtsstunde von Legenden, die eine unglaubliche Langzeit- und Tiefenwirkung haben können.



Die Suche nach den Schuldigen

Das beste Beispiel aus der deutschen Geschichte ist die sog. Dolchstoßlegende, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Erklärung der deutschen Niederlage in die Welt gesetzt wurde. Danach war die Heimat, d.h. sog. "Novemberverbrecher", Politiker, Gewerkschaften, Sozialisten etc. dem siegreichen deutschen Heer mit der Forderung nach einem Waffenstillstand in den Rücken gefallen. Wir wissen, wie tief sich diese Legende in den Köpfen festgesetzt und wie verheerend sie sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ausgewirkt hat. 1945 war eine ähnliche Legende nicht möglich, dafür sorgten schon die Sieger. Aber es entstanden andere Legenden: so war die Wehrmacht angeblich sauber geblieben, alle Untaten und Verbrechen waren von der SS begangen worden. Die Funktionseliten wuschen sich mit der Behauptung rein, in einer Diktatur seien sie gegen ihren Willen zum Mitmachen gezwungen gewesen. Nach 1945 gab es eigentlich nur Unschuldige und/oder Widerständler. Manche Beobachter kamen aus dem Staunen nicht heraus.



Das Auswärtige Amt und Staatssekretär Ernst von Weizsäcker

Eine erst 2010 öffentlichkeitswirksam aufgedeckte und widerlegte Legende ist die vom Auswärtigen Amt (AA) als Hort des Widerstands (Das Amt). Damit sind wir wieder bei Richard von Weizsäcker, dessen Vater Ernst von Weizsäcker von 1938-1943 Staatssekretär des AA gewesen war. Von der Siegermacht USA war Ernst von Weizsäcker in einem der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse vor Gericht gestellt worden. Im sog. Wilhelmstraßenprozess gegen führende Diplomaten war er der Hauptangeklagte und wurde zu sieben Jahren Haft verurteilt. Diplomaten des 1945 aufgelösten AA hatten sich in die Verteidigung Weizsäckers eingeschaltet und einen ganzen Kranz von Legenden geschaffen, die Weizsäcker entlasten und gleichzeitig ihre berufliche Zukunft sichern sollten. Danach war das saubere AA der Berufsdiplomaten seit 1933 in einen Abwehrkampf gegen NS-Seiteneinsteiger verwickelt gewesen. Von den NS-Verbrechen habe man nichts gewusst und das AA habe von allen Reichsministerien im Widerstand den höchsten Blutzoll entrichtet. Die Legenden haben sich bis ins 21. Jahrhundert gehalten, deshalb auch die Aufregung um die oben genannte Veröffentlichung.



Münchner Abkommen 1938

Die Legendenbildung gelang, die Rettung des AA-Staatssekretärs Weizsäcker nicht. Zuviel sprach dagegen. Das gilt auch für die Behauptung, die Mitwirkung Ernst von Weizsäckers am Münchner Abkommen 1938, das die Zerschlagung der Tschechoslowakei einleitete, sei ein Akt des Widerstands gewesen, weil Weizsäcker mit London konspiriert habe. Wer in der Politik oder Diplomatie eine internationale Krise miterlebt hat, weiß, dass die Akteure auf verschiedenen Instrumenten unterschiedliche, bisweilen sogar dissonante Melodien spielen - schon um den Stress für die Gegenspieler zu erhöhen: Außenminister Ribbentrop war in der Sudetenkrise der Scharfmacher, der Berufsdiplomat Weizsäcker der Vertreter der Friedenspartei. London hat dieses durchsichtige und gängige Spiel schnell durchschaut. Ein Akt des Widerstands lässt sich daraus nicht konstruieren (siehe auch: Guntram von Schenck, Das Auswärtige Amt und die Vergangenheit oder Vom Kratzen an den Tempelwänden, www.guntram-von-schenck.de).

Gleichwohl wird diese Schutzbehauptung noch heute von Richard von Weizsäcker aufrecht erhalten (u. a. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Okt. 2010). Richard von Weizsäcker hatte während des Wilhelmstraßenprozesses sein Jurastudium unterbrochen, um seinem Vater beizustehen. Er hat die Entstehung der Legenden um das AA unmittelbar mitbekommen (und daran mitgewirkt?). Es stellt sich die Frage, ob und ggf. was Richard von Weizsäcker damals über die Entwicklung und Durchsetzung von Legenden gelernt hat - vielleicht ohne sich selber darüber Rechenschaft zu geben?

Man hört es förmlich aus seiner Rede vom 8. Mai 1985 heraus, dass Richard von Weizsäcker es sich nicht leicht gemacht hat. Man tut ihm kein Unrecht, wenn man annimmt, dass ihn der Prozess und die Verurteilung noch lange danach beschäftigt und belastet haben. Die Rechtfertigungsversuche - so untauglich sie auch sein mögen - halten bis heute an. Niemand blickt in die Herzen der Menschen. Aber auch ohne tiefergehende Kenntnisse in Psychologie kann man annehmen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Verurteilung des Vaters und der Rede vom 8. Mai 1985 gibt. Hier hat eine Entlastung stattgefunden, das implizite Eingeständnis, dass die herausragenden Vertreter der deutschen Funktionseliten, die bis zum Schluss im Dienst der Nazi-Führung verblieben, schuldig geworden sind. Dazu gehörte auch sein Vater. Er sollte ihn nicht länger ausklammern. Ohne "Befreiung" keine Verurteilung. Staatssekretär Ernst von Weizsäcker war sehr viel mehr schuldig geworden als die große Mehrzahl der Deutschen in jener Zeit. Wenige waren so gut informiert und blieben bis zum Schluss an so exponierter Stelle.



Holocaust

Deutlich wird dies am Judenmord. Es ist problematisch, wie Richard von Weizsäcker als Bundespräsident die Deutschen kollektiv in die schuldhafte Verantwortung der wichtigsten Vertreter der deutschen Funktionseliten mit einbezieht. Er tut dies explizit als er vom Holocaust spricht: "Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, dass Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah".

Es ist umstritten, inwieweit die deutsche Bevölkerung das Wissen um den Holocaust teilte. Sicher ist, dass etwa 300 000 Personen, die in die Vernichtungsaktionen eingebunden waren, genau Bescheid wussten. Die große Masse der Bevölkerung wusste eben nicht genau, was geschah (Peter Longerich, Davon haben wir nichts gewußt, München 2006, S. 324; Alfred de Zayas, Völkermord als Staatsgeheimnis. Vom Wissen über die "Endlösung der Judenfrage" im Dritten Reich, München 2011; Guntram von Schenck, Holocaust - Folge von Hitlers Ruhmsucht? www.guntram-von-schenck.de). Es gab Gerüchte, aber lange keine Gewissheit. Selbst die Deportierten wussten oft nicht, was ihnen bevorstand.

Der Holocaust, die systematische Vernichtung der Juden ab 1942 war ein streng gehütetes Geheimnis, dessen Preisgabe mit der Todesstrafe bedroht war. Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler (1974-1982) hat z. B. als Soldat laut eigener Aussage nichts vom Holocaust gewusst. Es war riskant, Fragen zu stellen und nachzuforschen. Die meisten Deutschen waren - was keine Entschuldigung sein soll - im Kriegsalltag mit eigenen Problemen belastet. Es gab kaum eine Familie, die sich nicht Sorgen um das Schicksal eines oder mehrerer ihrer Mitglieder machen musste. Bei den hohen Verlusten der Wehrmacht konnte täglich eine Todesnachricht eintreffen - was auch oft genug geschah. Die Fliegerangriffe der Alliierten taten ein Übriges.

Im "totalen Krieg" befand sich Deutschland zudem in einem alle Fasern der Gesellschaft durchdringenden Ausnahmezustand, in dem Informationen und deren Verbreitung streng kontrolliert wurden. Das Abhören von Feindsendern z. B. konnte ins KZ führen. Hitler hatte mehrfach öffentlich die Vernichtung der Juden angedroht, über die konkrete Umsetzung aber Schweigen bewahrt. Sehr viel häufiger als die Drohungen gegen die Juden waren freilich die im Laufe der Jahre immer unglaubwürdiger werdenden Drohungen der Vernichtung der feindlichen Armeen und alliierten Luftflotten, ganz zu schweigen von der Ankündigung des sicheren "Endsiegs". Wie glaubwürdig wirkten solche Drohungen und Ankündigungen auf die Deutschen?

Es ist heute schwer, um nicht zu sagen fast unmöglich, sich ein zutreffendes Bild der Kenntnislage der Deutschen über den Holocaust während des Krieges zu machen. Eine pauschale Schuldzuweisung an die Deutschen, wie sie von Richard von Weizsäcker als Bundespräsident vorgenommen wurde ("Wer seine Augen und Ohren aufmachte, wer sich informieren wollte…"), entbehrt aber der Grundlage.

Sicher dagegen ist: Weizsäckers Vater Ernst von Weizsäcker, der AA-Staatssekretär wusste über die Judenvernichtung Bescheid; er hat entsprechende Berichte der Einsatzkommandos abgezeichnet (Das Amt, S. 186 f., S. 396). Der Zeithistoriker Daniel Koerfer vermutet sogar, dass der AA-Staatssekretär in Nürnberg hingerichtet worden wäre, wenn diese Dokumente schon bekannt gewesen wären (Interview, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.11.2010).



V. "Vae Victis" oder der Preis der "Befreiung"



Wer von Befreiung spricht bedankt sich bei den Siegern; denn die Deutschen haben sich 1945 nicht selbst befreit. Sie haben keinen nennenswerten Beitrag zu ihrer Befreiung geleistet, sie haben sich im Gegenteil bis zum Schluss gewehrt. Die Folgen für die Niederlage / Befreiung waren für die Deutschen schwerwiegend: die Amputation und Zerschlagung Deutschlands als eigenständige, souveräne, staatliche Einheit. Die Sieger haben sich die Früchte ihres Sieges selbst geholt, ohne die Deutschen zu fragen.

1985 stimmten die Deutschen der Befreiungsrede Weizsäckers überwiegend zu. Die Befreiung war aber nicht ohne die Niederlage und ihre Folgen zu haben. Das ist kein semantisches Problem. Mit der Dankbarkeit erhält das, was 1945 dem mit der bedingungslosen Kapitulation willenlos gemachten Deutschland widerfuhr, eine nachträgliche Legitimation durch die besiegten Deutschen selbst. Die logische Konsequenz der Weizsäcker-Rede und der darin zum Ausdruck kommenden Dankbarkeit ist die Bereitschaft, auch den Preis für die Befreiung zu zahlen.



Zerschlagung Deutschlands

Die Zerschlagung der staatlichen Einheit Deutschlands war das wichtigste Ergebnis der deutschen Niederlage 1945. Sie war kein implizites alliiertes Kriegsziel gewesen wie im Ersten Weltkrieg bis zum Ausscheiden des zaristischen Russland 1917 aus der antideutschen Allianz, aber sie lag in der Luft. Das "Finis Germaniae", die Teilung, das Zerbrechen des 1871 gegründeten Deutschen Reichs, wovon seit Kriegsbeginn 1914 so viel die Rede war, war nicht nur eine deutsche Zwangsvorstellung. Allzu bereit waren die Sieger nach 1945, den Prozess des Auseinandergleitens und Auseinanderbrechens ihrer deutschen Besatzungszonen in Ost und West hinzunehmen und zu fördern.

1985 waren die Bundesrepublik und die DDR weit auseinander gedriftet: beide waren Mitglieder der UNO und in Bonn war man immer mehr bereit, auch noch die letzten Reste gemeinsamer Staatlichkeit, wie die DDR das wünschte, über Bord zu werfen (z.B. deutsche Staatsbürgerschaft als eine der letzten Klammern). Im Frühherbst 1989, wenige Wochen vor den immer unübersehbar werdenden Auflösungserscheinungen im Ostblock, verzichtete die Springer-Presse als letzter großer Medienkonzern auf die Gänsefüßchen, die den Begriff "DDR" bis dahin einrahmten und fügte sich in die unausweichlich erscheinende Akzeptanz und Anerkennung des zweiten deutschen Staates.

Die deutsche Zweistaatlichkeit war im Westen Deutschlands in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts innerlich weitestgehend akzeptiert, die Wiedervereinigung bis auf Ausnahmen nur noch Rhetorik. Die DDR war anerkannt, obwohl man wusste, dass dort eine von Stalin eingesetzte Diktatur herrschte, die die Menschenrechte verachtete und den Begriff "demokratisch" wie zum Hohn im Namen führte. 1985 galt die Wiedervereinigung, die sich im Irgendwann dunkler Zukunft auflöste, bestenfalls als eine Sache von Generationen - wenn überhaupt. Die Befreiungsrhetorik Weizsäckers bediente diese resignierende und resignierte Erwartung, denn die "Befreiung" war nun einmal ohne diese Konsequenz von 1945 nicht zu haben gewesen.

1985 war nicht absehbar, dass sich wenige Jahre später, 1989/1990, die Chance der Wiedervereinigung bieten würde, die von Helmut Kohl mit Erfolg ergriffen wurde. Die Westdeutschen hatten sich mit dem Status quo 1985 abgefunden und sich in ihr Schicksal ergeben: "Was wirklich ist, das ist vernünftig, und was vernünftig ist, das ist wirklich" (Hegel). An die Offenheit der Geschichte, wie sie sich 1989/1990 entwickelte, glaubte 1985 niemand - auch wenn es einige Wenige gab, die die Hoffnung (noch) nicht aufgegeben hatten.



Ostgrenze

Nach dem Versailler Friedensvertrag 1919 hatte keine - keine - der maßgeblichen deutschen Parteien die von den Siegermächten gezogene Ostgrenze des Deutschen Reiches akzeptiert. Das Versailler Diktat passierte den Reichstag nur mit knapper Not, letztlich nur mithilfe eines Geschäftsordnungstricks, um Schlimmeres (Verlust der Reichseinheit) zu verhüten. Die Forderung nach einer Revision der Ostgrenze, die Ostpreußen und Danzig vom Deutschen Reich abtrennte, war ein Grundkonsens der Weimarer Parteien. Hitler konnte später von diesem Grundkonsens profitieren, als er 1939 eine Revision der Ostgrenze forderte und den Zweiten Weltkrieg begann. Die Deutschen standen in dieser Frage hinter ihm, auch wenn sie den großen Krieg, einen Zweiten Weltkrieg nicht wollten.

Noch während des Zweiten Weltkriegs einigten sich Stalin und Churchill darauf, die deutsche Ostgrenze erneut massiv nach Westen und damit Polen noch weiter nach Mitteleuropa zu verschieben. Schlesien, Pommern, Danzig, ein Teil Ostpreußens wurden Polen zugeschlagen, der andere Teil Ostpreußens der Sowjetunion, alles Gebiete, die seit Jahrhunderten unbestritten deutsch besiedelt waren. Stalin drückte als Draufgabe noch Stettin zugunsten Polens durch und verordnete der von ihm gegründeten DDR die Anerkennung der Oder-Neiße als "Friedensgrenze".

Die Umdeutung der von Stalin gezogenen Grenze in eine deutsch-polnische Friedensgrenze entlang der Oder-Neiße blieb im Westen Deutschlands bis 1990 umstritten. Ohne das Zugeständnis der endgültigen Anerkennung wäre die Wiedervereinigung 1990 nicht zu haben gewesen. Nicht nur der französische Staatspräsident Mitterrand war in dieser Frage absolut unnachgiebig. Bundeskanzler Helmut Kohl hat die Anerkennung bis zur Gefahr einer Blockierung des Wiedervereinigungsprozesses hinausgezögert. Richard von Weizsäcker hingegen war bereit, auch diesen Preis für die "Befreiung" zu bezahlen: Er gehört mit zu den frühesten Befürwortern eines endgültigen Verzichts und gilt den Polen noch heute als beliebtester deutscher Politiker von Rang.



Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse waren juristisch problematisch und hatten den Beigeschmack von Siegerjustiz. Gleichwohl waren sie aus pragmatischer Sicht wohl unausweichlich. Man konnte die verantwortlichen Nazi-Größen nicht einfach laufen lassen. Man konnte sie auch nicht kurzerhand an die Wand stellen, was Stalin zunächst anscheinend im Sinn hatte. Deutsche Gerichte, denen man die Prozesse hätte überantworten können, gab es unmittelbar nach Kriegsende nicht. Das Ziel der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse war die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher und in den zwölf Nürnberger Nachfolgeprozessen die Anklage und ggf. Verurteilung der herausgehobenen deutschen Funktionseliten aus Wirtschaft, Militär, Diplomatie etc.

Der Hauptangeklagte im sog. Wilhelmstraßenprozess gegen die Diplomaten des Auswärtigen Amtes war der AA-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Wie berichtet wurde er zu sieben Jahren Haft, in der Berufung zu fünf Jahren verurteilt. Das war ein sehr hartes Urteil in Anbetracht der Tatsache, dass es nur einen Monat vor Gründung der Bundesrepublik ausgesprochen wurde, also zu einer Zeit, in der die meisten Angeklagten mit einem milden Urteil oder sogar Freispruch rechnen konnten. Die Höhe des Strafmaßes ist hier nicht der Punkt, es geht um die Anerkennung des Gerichts und des Urteils. Die Familie von Weizsäcker hat die Akzeptanz bis heute verweigert. Die Dankbarkeit für die Befreiung vom Faschismus erstreckt sich für Richard von Weizsäcker nicht auf die Verurteilung seines Vaters, die aber in der Gesamtsystematik der Nürnberger Prozesse durchaus schlüssig war.

Die deutsche öffentliche Meinung geht in diesem Punkt weiter. Zum Andenken an die Nürnberger Prozesse wurde in Nürnberg 2010 der ehemalige Gerichtssaal in eine Art Museum umgewandelt und die Fahnen der Sieger von 1945 davor aufgepflanzt. Kritik oder Widerspruch in den deutschen Medien regte sich allenfalls am Rande. Nicht zufällig eilte der russische Staatspräsident Medwedjew herbei, um dieses seltene Schauspiel zu genießen. Soviel Akzeptanz auch gegenüber Stalin, dessen Schergen in Nürnberg mit zu Gericht gesessen hatten, hatte man lange nicht mehr gesehen - auch in Russland nicht.



VI. Risiken und Nebenwirkungen



Die Umdeutung des 8. Mai 1945 in eine Befreiung ist nicht ohne erhebliche Risiken und Nebenwirkungen.



Macht von Mythen und Legenden

Mythen und Legenden in historischen Großerzählungen sind riskant, da sie das Handeln der Politiker und die Erwartungen der Regierten falsch programmieren (können). Einige Ereignisse oder Vorgänge werden im Ablauf der Geschichte hervorgehoben und erhalten als Beispiele oder Lehrstücke besondere Qualität. Sie setzen sich im kollektiven Gedächtnis fest und widerstehen der kritischen Auflösung durch die Geschichtswissenschaft. Nahezu alle Völker und Staaten haben solche Mythen oder stützen sich in ihrem Selbstbild auf Legenden: Gründungsmythen, Sieges- oder Verlustmythen, Opferlegenden und natürlich Befreiungslegenden.

Deutschland ist besonders fruchtbar. Auf die sog. Dolchstoßlegende wurde bereits hingewiesen, die im Zweiten Weltkrieg zum Durchhaltewillen bis zum Schluss beigetragen hat. König Friedrich II von Preußen ist eine zweite geschichtsmächtige, weil das Denken und Handeln bestimmende Legende: hat er doch im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) gegen eine Koalition von Feinden durchgehalten und damit Preußen als europäische Großmacht durchgesetzt. Auch diese Legende trug als Vorbild die Deutschen durch den Zweiten Weltkrieg bis zur bedingungslosen Kapitulation.



Befreiungslegenden

Befreiungslegenden sind von besonderer Qualität. Überwiegend knüpfen sie an heroische Taten, Akte des Widerstands an, die von den Befreiten selbst erbracht worden sind. So war es aus der Sicht vieler Franzosen nicht zuletzt die Résistance, die Frankreich im Zweiten Weltkrieg befreit hat; das gleiche gilt für die Partisanen in Polen und in Jugoslawien etc. Wie man weiß spielt der Anteil Dritter an der Befreiung oft eine, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle. Der Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken zu Beginn des 19. Jahrhunderts wäre ohne die Unterstützung von Freiwilligen und Geld aus Westeuropa gescheitert. Ein aktuelles Beispiel ist die nationalstaatliche Einigung Italiens, deren 150. Jubiläum 2011 gefeiert wird. Sie wäre ohne den Sieg Preußens und seiner deutschen Verbündeten über Frankreich 1870/1871 nicht möglich gewesen; erst nach dem dadurch erzwungenen Rückzug der französischen Truppen aus dem Vatikanstaat konnte Rom befreit und die Einigung Italiens vollendet werden.

In Deutschland war es der Aufstand des Volkes in den Freiheitskriegen 1813-1815, der entscheidend zur Vertreibung Napoleons beigetragen haben soll, die aber ohne den Sieg des Zaren über die Grande Armée Napoleons nicht stattgefunden hätte. Die Beispiele ließen sich vermehren. Der Anteil Dritter oder ausländischer Hilfe wird in den Mythen oft unterschlagen oder klein gerechnet. Einige nennenswerte und mehr als symbolische Aktionen der Befreiten, ein siegreiches Fanal, ein Opfergang, ein Rütli-Schwur, wie bei den Schweizer Eidgenossen o. ä. sind notwendig, damit sich ein Mythos, eine Legende kristallisieren kann. Am besten ist ein Held, eine Art Wilhelm Tell, auch wenn sich eine solche Gestalt historisch kaum oder gar nicht belegen lässt und in weiten Teilen erfunden werden muss.

Im Deutschland der Kriegsjahre 1939-1945 gab es dagegen nichts dergleichen. Auch nicht gegen Schluss, als nicht mehr zu übersehen war, dass der Krieg verloren war. Der 20. Juli 1944, der Versuch von Graf Stauffenberg und seiner Mitverschwörer, Hitler zu stürzen, war honorig und wichtig, aber er kam zu spät und scheiterte. Eine Lösung Deutschlands aus der Klammer des NS-Regime fand auch nicht ansatzweise statt. Deutschland wurde von außen erobert und besetzt. Es war eine Befreiung ohne ein Zutun der Befreiten. Das ist eine ganz andere Ausgangslage, der Befreiungsbegriff ein ganz anderer.

Wer mit Gewalt unterworfen wird und dann mit dem Begriff der Befreiung operiert, hat in Wahrheit überhaupt nicht begriffen, was mit Freiheit und Befreiung gemeint ist. Er hat zum Freiheitsbegriff keine echte, innere Beziehung. Wenn der Bundespräsident für die Deutschen die Niederlage, Besetzung und Teilung ihres Landes - Deutschland war 1985 geteilt - als Befreiung bezeichnet, dann stimmt irgendetwas nicht. Da ist ein Volk nicht ehrlich vor sich und seiner Geschichte. Eine Ausnahme bildet die gewaltlose Revolution in der DDR 1989/1990, die aber im Bewusstsein der wiedervereinigten Nation leider nicht die Rolle spielt, die ihr zukommt.

Das bleibt nicht ohne Folgen. Die fehlende innere, echte Beziehung zum Freiheitsbegriff und zur Befreiung ist übrigens ein Vorwurf, den die Bürgerrechtsbewegungen im Ostblock vor 1989/1990 gegenüber den politischen Akteuren in Westdeutschland erhoben haben. Heute, ganz aktuell 2011, kommen ähnliche Stimmen aus dem arabisch-islamischen Raum, u. a. Libyen, wo man sich beklagt, dass die Deutschen zwar überschwänglich die Freiheitsrhetorik im Munde führen, aber nichts tun, wenn es darauf ankäme, den Worten Taten folgen zu lassen. (Siehe deutsche Enthaltung im UNO-Sicherheitsrat am 17. März 2011 zur Libyenresolution Nr. 1973 - ein Datum, das man sich merken muss!)

Hinter der Rhetorik steht nichts, keine eigene Erfahrung; nur die Verwechslung von gewaltsamer Bekehrung mit Befreiung. Das ist eben nicht das Gleiche. Es ist eine Form von Selbstentmündigung, die die Befreiung von Dritten erwartet, es ist die Preisgabe des eigenen freien Willens zur Freiheit, die erkämpft werden muss. Es ist die Absage an die Eigenverantwortlichkeit. Weizsäcker hat das mit der "Befreiung vom Faschismus" natürlich nicht gemeint. Aber es ist die Folge eines Befreiungsbegriffs, wie er von den Deutschen verstanden und inhaltlich umgepolt worden ist.



Entmündigte Außenpolitik

Wenig reflektiert ist bisher, dass 1945 auch das Jahr der außenpolitischen Entmündigung Deutschlands ist. Mit der bedingungslosen Kapitulation übernahmen die Siegermächte die Regierungsgewalt über Restdeutschland. Eine deutsche Regierung gab es bis zur Gründung der DDR und der Bundesrepublik nicht, beide Staaten wurden unter Vormundschaft und Aufsicht der Supermächte USA und UdSSR ins Leben gerufen. In der Außenpolitik waren beide Staaten weder frei noch souverän. (Übrigens auch nicht in der Innenpolitik.) Die Bundesrepublik erhielt z. B. erst 1951 ein Auswärtiges Amt und gewann dann im Lauf der Jahre etwas an außenpolitischer Bewegungsfreiheit.

Die Bundesrepublik und die DDR bewegten sich in einem engen, von den Siegermächten im Westen und der Sowjetunion im Osten vorgegebenen Korsett. Abweichungen, wie die Ostpolitik Willy Brandts wurden z. B. in Washington mit Argusaugen beobachtet und teilweise ausgebremst. Der außenpolitische Schulterschluss mit den USA war eine unerlässliche Lebenslinie jeder Bundesregierung. War er gefährdet, wie in der Nachrüstungsdebatte nach dem NATO-Nachrüstungsbeschluss 1979, stürzte die Regierung, während sich die neue ihres Rückhalts in Washington versicherte.

Die außenpolitische Entmündigung, unter anderem als Bündnistreue und zum Teil auch als Multilateralismus eingekleidet, hatte Bestand bis zur Wiedervereinigung. Sie war aus der Sicht der deutschen politischen Klasse eine Art Gottesgeschenk. Sie enthob die deutsche Außenpolitik von schwierigen Entscheidungen, der Übernahme internationaler Verantwortung und eigenverantwortlicher Interessenpolitik. Die Formulierung "nationaler Interessen" galt als eine Art Teufelswerk, das - abgesehen von Wirtschaftsinteressen - mit einem Tabu belegt war.

Die Bundesrepublik ging im Westen, sprich NATO und Europäische Einigung in einer Weise auf, die für Frankreich, Großbritannien und natürlich die USA unvorstellbar war. Mühsam und gegen Widerstände musste in den Jahren nach 1990 der Begriff der "nationalen Interessen" erst wieder entdeckt und positiv besetzt werden, obwohl er die Grundlage jeder Außenpolitik ist. Die "nationalen Interessen" sind die einzige Münze, die im internationalen Verkehr, in der internationalen Politik zählen. Rationale Außenpolitik ist nur auf dieser Grundlage möglich.

Zum Zeitpunkt der Rede Weizsäckers, 1985, bedeutete die "Befreiung" auch ein Ja zur fortdauernden außenpolitischen Entmündigung. Die westdeutsche politische Klasse war froh, den Entscheidungszwängen entronnen zu sein, die Deutschland nach der Reichsgründung 1871 in die Katastrophen der Weltkriege geführt hatten. Die deutsche Politik und Diplomatie hatten sich nach 1871 im europäischen Interessengeflecht nie zurecht gefunden und waren schließlich als Außenseiter gescheitert (vgl. Guntram von Schenck, Kontinuität deutscher außenpolitischer Interessen im 20. Jahrhundert? www.guntram-von-schenck.de).

Nach der Niederlage 1945 und der bedingungslosen Kapitulation war die deutsche außenpolitische Entmündigung durch Fremdeinwirkung der Sieger komplett. Im Lauf der Jahre wurde sie in Randbereichen etwas gelockert. 1985 bekam die deutsche Einordnung/Unterordnung unter den fremden Willen mit der Rede Weizsäckers den Charakter der Freiwilligkeit. Die deutsche politische Klasse, die seit der Reichsgründung 1871 auf keine außenpolitische Erfolgsgeschichte sondern nur auf Fehleinschätzungen, Fehlentscheidungen und Katastrophen zurückblicken konnte, orientierte sich lieber an Vorgaben aus Washington, London, Paris und im Osten aus Moskau. Die Rede Weizsäckers übergoss die deutsche außenpolitische Selbstentmündigung mit dem Glorienschein der Befreiung.

Die Risiken und negativen Aspekte dieser Haltung traten ab 1990 nach und nach hervor. Die Selbstentmündigung der Jahrzehnte zuvor setzte sich als außenpolitischer Orientierungsmangel fort. Schon im Golfkrieg 1991 wurde das wiedervereinigte Deutschland auf dem falschen Fuß erwischt, konnte sich aber mit Scheckbuchdiplomatie aus der Patsche ziehen. Am Thema der Auslandseinsätze der Bundeswehr kristallisierte sich danach die Diskussion als Gezerre zwischen der Bereitschaft auch international Verantwortung zu übernehmen oder im Herrgottswinkel der verantwortungsfreien Selbstentmündigung zu verharren. Der Kosovo-Konflikt 1999, der Irakkrieg 2003 und Afghanistan markieren die Stationen dieser Entwicklung.

Ein Rückfall in die Orientierungslosigkeit und Flucht aus der internationalen Verantwortung ist der Libyen-Konflikt 2011, in dem die Bundesregierung mit der "Enthaltung im Sicherheitsrat" (17. März 2011) leider alle Vorbehalte gegenüber einer eigenständigen deutschen Außenpolitik bestätigt hat. Mit Russland und China, die mit ihrer Enthaltung die Sicherheitsrats-Resolution ermöglicht hatten, stand Deutschland allein und isoliert gegen seine Verbündeten USA, Frankreich und Großbritannien. Lothar Rühl schreibt zu recht: "In einem kritischen Moment der deutschen und europäischen Außenpolitik wurde in Berlin ein kapitaler historischer und strategischer Fehler begangen" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. April 2011).



VII. Traditionen! Traditionen?



Gibt es in Deutschland anschlussfähige und tragfähige Traditionen, an die politisch angeknüpft werden kann?



Widerstand

Die Rückbesinnung auf den Widerstand des 20. Juli 1944, die Erinnerung an das Hitler-Attentat von Graf Stauffenberg und seiner Mitverschwörer, ist als herausragende Einzeltat des Widerstands von unbestrittener Bedeutung. Aber kann allein auf dem 20. Juli 1944 eine tragfähige, zukunftsstiftende nationale Tradition aufbauen? Der Versuch des Kreises um Stauffenberg setzte ein Zeichen, ein wichtiges moralisches Zeichen - aber das Attentat scheiterte. Es kam zu spät, der verlorene Krieg war bereits in der Endphase; die Ziele der Offiziere waren, abgesehen vom Sturz Hitlers, unklar: Demokratie und Freiheit waren nicht ihr erstes Anliegen. Hitler blieb an der Macht, der Klammergriff des NS-Regimes um Deutschland wurde nicht gesprengt, er wurde noch härter.

Die liberalen, konservativen, nationalkonservativen Parteien und die katholische Zentrumspartei haben sich mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz vom März 1933 und ihrer nachfolgenden Unterstützung für Hitler disqualifiziert. Die Kommunisten haben sich Stalin, dem anderen großen Schlächter des 20. Jahrhunderts untergeordnet. Was bleibt ist die deutsche Sozialdemokratie, die durch die Irrwege Deutschlands hindurch unbeirrt für die Demokratie gekämpft, immer für den Frieden eingetreten und die soziale Gerechtigkeit, den inneren Frieden zum großen Ziel erhoben hatte. Von diesem großen Erbe zehrt die deutsche Sozialdemokratie heute noch, auch wenn sie in den Niederungen der aktuellen Politik diesem hehren Ziel nicht immer entspricht. An die Tradition der Sozialdemokratie kann und sollte anknüpfen, wer in Deutschland positive Traditionen weiterführen will.



Stunde Null

Das Jahr 1945 eignet sich nicht - nicht - als die vielbeschworene "Stunde Null," von der ab auf wundersame Weise alles neu begann. Die Auferstehung in Unschuld nach dem 8. Mai 1945 hat es nie gegeben. Deutschland hat sich nicht selbst befreit und die verbrecherische Diktatur Hitlers nicht selbst gestürzt. Es hat noch nicht einmal einen bemerkenswerten Beitrag dazu geleistet. Deutschland wurde von außen anfangs gewaltsam und bis 1990 als geteilte Nation auf einen neuen Weg gebracht. Die Freiheits- und Befreiungsrhetorik sollte - wie gezeigt - nicht darüber hinweg täuschen. Im Grunde genommen ist die "Stunde Null" der Begriff, die Chiffre eines Gedächtnisverlusts, mit dem die große Erinnerungslücke zugedeckt wird, die vom letzten Kriegsjahr bis etwa 1948/1949 (Währungsreform / Gründung der Bundesrepublik) reicht.

Diese Zeit wurde mit einem Tabu belegt, unter dem sich viele rätselhafte und hochgradig unangenehme und negative Erscheinungen und Entwicklungen verbergen. Die Wiederauferstehung als Unschuldslämmer oder gar Widerständler der vielen deutschen Mittäter und Mitläufer nach Kriegsende, die dem NS-Regime bis zum Schluss und zum Teil mit dem Einsatz ihres Lebens gedient hatten, ist nur eines dieser Phänomene. Wie alle Wunder bleibt auch dieses unter einem undurchdringlichen Schleier verborgen, in diesem Fall einer Verdrängung und totalen Erinnerungsverweigerung.

Weizsäcker selbst hat in seiner Rede fest gehalten, dass es keine "Stunde Null" gab, aber die Chance für einen Neubeginn. Heute wissen wir, dass die Chance für einen Neubeginn wenig oder gar nicht genutzt wurde. Im Westen rückten die alten Funktionseliten wieder in die Ämter (z. B. Auswärtiges Amt) oder verblieben gleich dort (z. B. Bundesnachrichtendienst, BND). Für andere Ministerien, Behörden, Polizei, Verwaltungen und Justiz, Schulen, Hochschulen und Wirtschaftsunternehmen steht die Aufarbeitung noch an. Es zeichnet sich ab, dass die Forschungsergebnisse nicht wesentlich anderes erbringen werden. Besonders pikant scheint die Geschichte des Bundeskriminalamtes, BKA, zu sein, wenn es stimmt, dass sich dort ehemalige Nazi-Polizeiexperten und bezahlte Agenten des US-Geheimdienstes CIA die Schreibtische teilten.

Zögerlich und widerwillig nähern sich die Deutschen der Tabuzone der sog. Stunde Null. Jede missverständliche Äußerung, jeder falsche Schritt außerhalb der festgetretenen Pfade der politischen Korrektheit kann das Ende der wissenschaftlichen und/oder publizistischen Karriere derer bedeuten, die sich auf dieses schwierige Terrain vorwagen. Historische Forschung und Publizistik befassen sich in Deutschland exzessiv mit bestimmten Ausschnitten des Zweiten Weltkriegs und lösen damit immer wieder Wellen der Betroffenheit aus. Selektiv wahrgenommen, vernachlässigt und ausgeblendet werden die letzten Kriegsmonate und die unmittelbare Nachkriegszeit, obwohl sie für die spätere Entwicklung in Deutschland von größter Bedeutung sind.

Die entscheidenden Weichen wurden vor Gründung der Bundesrepublik und der DDR gestellt. Es wird Zeit, das aufklärerische Interesse auf diese Jahre zu richten. Wir werden dabei voraussichtlich sehr viel mehr über uns erfahren als mit der Betroffenheitsschwelgerei über Teilaspekte des Zweiten Weltkriegs. Der behauptete Neubeginn hat nie stattgefunden, der Bruch mit der Vergangenheit ist eine Augenwischerei. Das schließt nicht aus, dass die Deutschen und ihre alten Eliten im Westen unter Aufsicht der Sieger allmählich in demokratische Strukturen hineinwuchsen. Im Osten hatten sie weniger Glück, Stalin hatte anderes mit ihnen vor.



Kriegsende - Kampf bis zum Untergang

Statt "Katastrophe" oder "Befreiung" gibt es eine andere Deutung des 8. Mai 1945, die auf viele freilich außerordentlich provozierend wirken muss. Sie verbindet den 8. Mai 1945 mit dem 3. September 1990, dem Tag der Wiedervereinigung. Winston Churchill hatte sich im Zweiten Weltkrieg im Augenblick der höchsten Gefährdung Großbritanniens nach der Niederlage Frankreichs erfolgreich für die Fortsetzung des Kriegs eingesetzt und am 28. Mai 1940 das Angebot Hitlers abgelehnt: für London das Empire, für Deutschland die Hegemonie auf dem europäischen Festland. Durchgesetzt hatte sich Churchill im britischen Kriegskabinett u. a. mit dem ebenso erstaunlichen wie bemerkenswerten Argument, "dass Nationen, die kämpfend untergingen, sich wieder erheben würden, jene aber, die kapitulierten, am Ende seien" (zit. nach Ian Kershaw, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 65; siehe auch Guntram von Schenck, Kriegswende Dezember 1941 und Holocaust, www.guntram-von-schenck.de).

Wenn Churchill und mit ihm das britische Kriegskabinett recht hatten - und nicht nur die Deutschen haben Churchill nach dem Krieg zu einer Art Autorität mit Unfehlbarkeitsanspruch erhoben - dann kommt dem deutschen Abwehrkampf eine bisher so nicht gesehene Bedeutung zu. Der Krieg war im Grunde ab Dezember 1941 für die Deutschen verloren. Ein Krieg gegen die USA, die Sowjetunion und Großbritannien samt Verbündeten war nicht zu gewinnen. Die Ressourcen an Menschen und Material waren zu ungleich verteilt. Nach Stalingrad 1942/1943 und allerspätestens 1944 seit der Landung der Alliierten in der Normandie und dem Durchbruch der Roten Armee im Mittelabschnitt der Ostfront war auch strategisch weniger Bedarften klar, dass der Krieg verloren war. Ende 1944, Anfang 1945 überschritten die Alliierten die Reichsgrenzen im Osten und im Westen, die alliierte Lufthoheit war total, die deutschen Städte versanken im alliierten Bombenhagel zu Schutt und Asche.

Und doch wurde weiter gekämpft. Die Rote Armee erlitt bei der letzten Offensive zur Eroberung Berlins von Mitte April 1945 bis zum 1. Mai 1945 mit 304 000 Mann nochmals gewaltige Verluste. Zwischen dem Spreeknie, wo heute das Kanzleramt und die Schweizer Botschaft stehen, und dem Reichstag fielen noch einmal tausende Soldaten im Angriff und Abwehrkampf. Hitler hatte bereits Selbstmord begangen (30. April 1945) und die Rote Armee hatte auf dem Reichstag die Siegesfahne gehisst, da wurde vom Keller und den oberen Stockwerken noch immer zurückgeschossen und der Reichstag verteidigt (siehe u. a. Antony Beevor, Berlin. The Downfall, Penguin Books, London 2003, S. 372.)

Es ist bemerkenswert, wie sich die Deutschen ihre Geschichte von Ausländern erzählen lassen müssen: Ein britischer Historiker, Alan B. Taylor, nannte es ein "großes Geheimnis", dass viele Deutsche über die zwölfte Stunde hinaus auf den Trümmern des dahingegangenen Reiches weiter kämpften. Mit Sarkasmus hatte Taylor hinzu gefügt, dass die Antwort darauf nie zu haben sein werde, da die Deutschen selbst sich nicht erinnerten (zit. nach Joachim Fest, Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches, Alexander-Fest-Verlag, Berlin 2002, S. 78).

Wenn Churchill recht hatte und der Wiederaufstieg einer Nation vom Kampf bis zum Untergang abhängt, dann verdankt Deutschland seinen Wiederaufstieg, die Wiederherstellung seiner staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990 - auch - diesem Abwehrkampf.

Im restaurierten Reichstag sind heute allerlei Relikte zu entdecken, die an den Kampf um dieses symbolträchtige Gebäude Ende April, Anfang Mai 1945 erinnern: Einschusslöcher, Graffiti sowjetischer Soldaten etc.

Warum gibt es keine Gedenktafel, keinen besonderen Ort, der im Reichstag an diese Verteidigung erinnert? (*)

Auch das gehört zur deutschen Geschichte, zum 8. Mai 1945 und dem Reichstag allemal.



Fazit

Die eingangs gestellten Fragen können wie folgt beantwortet werden: Die Tragweite der von Richard von Weizsäcker 1985 vorgenommenen Umdeutung der Niederlage von 1945 in eine Befreiung ist enorm, die Tragfähigkeit nahezu null und die Folgen teilweise katastrophal.

Die Rede ist zeitbedingt und traf die Stimmung der "Westdeutschen" Mitte der 1980er Jahre. Ein Vierteljahrhundert oder eine Generation später hält sie einer kritischen Überprüfung nicht stand.





(*) Text und Gestaltung müssten allerdings genau bedacht werden!



Guntram von Schenck, April 2011



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