7. Kapitel
1968 1971: Uni Tübingen / Promotion
Zum Sommersemester 1968 wechselte ich nach Tübingen. Ich
wohnte erst in Hirschau mit Blick auf die Wurmlinger Kapelle, wo einst
Hegel, Fichte und Schelling die Französische Revolution mit einem
"Freiheitsbaum" begrüßt hatten. In Tübingen wurde ich nur mit Vorbehalt immatrikuliert,
da in Bonn noch mein Verfahren "wg. Aufruhr" anhängig war. Nach
Tübingen war ich gewechselt, weil es dort gegen Ende der 1960er Jahre
bundesweit die beste Juristische Fakultät gab. Koryphäen von Dürig über
Schröder, Baumann, Gernhuber bis Medicus lehrten dort, und zwar so gut,
dass sich kein Repetitor halten konnte. Das 1. Staatsexamen bestand aus 8
Klausuren, also keine Hausarbeit. Erfahrungsgemäß wusste ich, dass ich
bei Klausuren, d. h. unter Druck, besser abschnitt als mit länglichen
Hausarbeiten. Ich wechselte die Universität auch noch aus anderem Grund:
Ich merkte, dass ich meine politischen Aktivitäten etwas
zurückschrauben musste, wenn ich noch einen "normalen, bürgerlichen"
Studienabschluss erreichen wollte. Wäre ich in Bonn geblieben, hätte ich
mich möglicherweise in politischen Aktivitäten verzettelt. Berufsrevolutionär ohne Studienabschluss wollte ich jedenfalls nicht werden - was seinerzeit einigen durchaus vorschwebte.
Deshalb Tübingen: ich habe es nie bereut, es wurde eine gute
Zeit. Nach ein paar Monaten zog ich in die Stadt um, auf den Österberg,
in die Nachbarschaft der Prachtpaläste der Traditionscorps,
Verbindungen und Burschenschaften mit weitem Blick über das Neckartal.
Tübingen war ein ganz anderes Pflaster als Bonn. Die Studentenunruhen
hatten auch hier Einzug gehalten. Der traditionelle südwestdeutsche Liberalismus
verhinderte wahrscheinlich eine frühzeitige Radikalisierung der
Studenten. Es gab zwar auch Aktionen, wie Streiks, Vollversammlungen,
Diskussionen in Seminaren etc. Die Zuspitzung und dogmatische
Ideologisierung setzte viel später ein. So konnte zumindest bis Ende der
1960er Jahre eine breitere Basis eines "linken" Aufbruchs erhalten
bleiben, der z. B. darin seinen Ausdruck fand, dass studentische
Verbindungen und Burschenschaften einbezogen wurden. 1968 oder 1969
grüßte vom Prachtbau einer Verbindung auf dem Österberg ein gewaltiges
Transparent: "Sogar Germania streikt".
Die politischen Studentengruppen waren über die "kleine radikale Minderheit" hinausgewachsen und prägten den studentischen Mainstream
an der Universität. Überwiegend waren es Bürgerkinder, nicht selten aus
Pfarrersfamilien, die sich besonders exponierten. Zwischen SDS und SHB
gab es keine Unterschiede mehr. Aus dem SDS fanden viele ihren Weg in
die SPD, unter ihnen Herta Däubler-Gmelin, die spätere
Bundesjustizministerin (ihr Vater war seinerzeit CDU-Oberbürgermeister
von Tübingen), und Dieter Spöri, später baden-württembergischer
Wirtschaftsminister. Die Professoren waren in Tübingen selbstbewusster,
liberaler und souveräner, kurz weniger verbiestert als in Bonn. Bei den
Politologen dominierte der Altliberale Theodor Eschenburg mit
anerkannter Autorität, und die Juristen wussten, dass ihre Fakultät das
Beste war, was es damals in Deutschland gab. Die Studenten
respektierten das. In der Landeshauptstadt Stuttgart regierte eine Große
Koalition von CDU und SPD, die sich in der Anfangsphase zurückhielt,
wenn es um Reaktionen gegen die Aktivitäten der Studenten ging. Das war
jedenfalls die Lage, die ich 1968 und auch noch 1969 vorfand. Später
sollte sich das auch in Tübingen ändern.
Die ganze Atmosphäre war dem Studium förderlich, viel
Ablenkung gab es in Tübingen ohnehin nicht. Ich beteiligte mich zwar hin
und wieder an Diskussionen in der Universität, widmete mich aber
schwerpunktmäßig dem Jurastudium in Form von Seminaren und feilte weiter
am Rohentwurf meiner Promotion. Der besseren Präsentation wegen tippte
ich den Rohentwurf neu ab. Das war damals auf einer kleinen
Reiseschreibmaschine eine reichlich stumpfsinnige Arbeit, die mich
wochenlang beschäftigte und die mit der heutigen Arbeit am PC nicht zu
vergleichen ist; die Vermieter beklagten sich über das ständige Gehacke
(und Gefluche). Auf mental gleicher Ebene zum Herumhacken auf der
Schreibmaschine hörte ich im Radio deutsche Schlager (Heintje mit seiner
"Mama" war damals besonders populär). Zwischendurch pilgerte ich zur
Wurmlinger Kapelle und schaute den Winzern, in Tübingen "Gogen"
genannt, bei der Arbeit zu. Leider verfielen die Weinberge an den
steilen Hängen immer mehr.
Einige Highlights setzten die Vorlesungen von Walter Jens in
der großen Aula der Universität und Begegnungen mit dem Philosophen Ernst Bloch,
der auf mich einen tiefen Eindruck machte - ein Mann wie aus dem Alten
Testament. Im Republikanischen Club fanden ein- oder zweimal
Kunstauktionen mit Gaben bekannter Künstler (z. B. Hap Grieshaber)
statt, mit denen Studenten unterstützt wurden, die in juristische
Schwierigkeiten geraten waren. Vor der Mensa und mitunter auch in den
Vorräumen der Seminare standen Tische mit revolutionärer Literatur,
meist in Form von Raubdrucken. Es war zum Teil Literatur, die in
Deutschland seit der Nazi-Zeit ausgeblendet gewesen war. Wer von uns
hatte z. B. zuvor jemals etwas von Wilhelm Reich gehört? Es war die
Gelegenheit, sich in völlig neue Bereiche hineinzulesen, seinen Horizont
zu erweitern - man musste ja nicht alles für bare Münze nehmen.
Promotion
Promotionen von Politikern sind u. a. durch die ehemaligen
Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg und Annette Schavan ins Gerede
gekommen. Deshalb ein Rückblick auf meine Promotion und deren besondere
Begleitumstände während der Studentenrevolte.
Am Historischen Seminar der Universität Bonn wollte ich
promovieren. Das Thema "Reims in merowingischer Zeit" hatte ich 1965 von
Prof. Eugen Ewig erhalten. Ewig war Vorbereiter, Mitgründer und Leiter
des Deutschen Historischen Instituts in Paris gewesen. Als ich
ihn kennen lernte, war er ein schon etwas angegrauter Herr von Mitte
Fünfzig, keine stattliche Figur, aber verbindlich, freundlich. Ein
dichter Haarkranz umgab sein oben kahles Haupt und gab ihm ein
mönchisches Aussehen. Sein Gesicht war fein gezeichnet, aber wirkte auf
mich nicht sonderlich intellektuell. In seinen Doktorandenkolloquien gab
es keine geistigen Höhenflüge, sie bestanden aus strengen und aus
meiner Sicht reichlich langatmigen Textkritiken frühmittelalterlicher
Urkunden. Fleiß, vorsichtige Interpretationen und Schlussfolgerungen
zeichneten Ewig aus. Als Mediävist hatte er einen ausgezeichneten Ruf.
Er war im katholischen Rheinland verwurzelt und hatte früh
enge Beziehungen zu Frankreich geknüpft, die er immer weiter ausbaute.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er zu den Befürwortern eines Rheinstaates
gehört, was ich seinerzeit nicht wusste. Im Rheinland und den alten
fränkischen Stammlanden bis zur Region um Paris, der "Ile de France",
sah er den Kern eines Europas nach seinen Vorstellungen, das nicht von
Berlin, nicht von Preußen aus regiert werden sollte. Seine
frühmittelalterlichen Forschungen entsprachen diesem Denken. Er passte
genau in die Bonner Republik - bis zur Wiedervereinigung. Als
Berlin wieder deutsche Hauptstadt wurde, gab er konsequenterweise das
ihm 1985 verliehene Bundesverdienstkreuz zurück.
Es ist erstaunlich, wie verschieden die Reaktion längerer
Frankreich-Aufenthalte und geistiger Auseinandersetzungen mit dem
Nachbarland sein können. Zwischen mir und Prof. Ewig klaffte ein
Abgrund: bei ihm Rheinbund-Sympathien und Abkehr von der
preußisch-deutschen Nation; bei mir Rückkehr zu eben dieser deutschen
Nation und ihren Interessen. Vermutlich hätte ich mit meinen Ansichten
auch ohne Studentenrevolte mit ihm Probleme bekommen. Im Bonner
Historischen Seminar galt Ewig als unpolitisch. Das erstaunt
nachträglich, denn seine Grundeinstellungen waren selbstverständlich
politisch, aber sie waren so sehr mit dem rheinischen Bonner
Grundkonsens identisch, dass er nicht auffiel. Als Studenten hatten wir
schon damals die Erfahrung gemacht, dass gerade die angeblich
"Unpolitischen" außerordentlich politisch waren, eben weil sie sich
keine Rechenschaft darüber ablegten.
Trotz aller Zurückhaltung konnten Prof. Ewig die
Studentenrevolte und ihre Ausprägungen am Historischen Institut Bonn
nicht kalt gelassen haben, sie haben ihn sicher beschäftigt und
mitgenommen. Es war doch ziemlich massiv, wie wir argumentierten und
agitierten. Als wir linken Studenten das Historische Seminar als "Hochburg der Reaktion" angriffen,
exponierten sich andere Professoren sehr schnell und zum Teil äußerst
scharf, z. B. Prof. Repgen, wie Prof. Ewig rheinischer Katholik. Ewig
blieb stumm, er geriet nie persönlich in die Kritik (- vielleicht war
ich auch eine Art Schutzschild für ihn?). Mein Anteil an den
studentischen Protesten war natürlich nicht verborgen geblieben,
spätestens seit meiner Kandidatur für das Studentenparlament war klar,
wo ich stand. Ich hatte auch nie einen Hehl daraus gemacht.
Den Großteil meiner Vorarbeiten zur Promotion hatte ich mit einem sogenannten Rohentwurf
abgeschlossen, bevor ich an die Universität Tübingen wechselte. In der
aufgewühlten Stimmung des Frühlings 1968 zog ich es vor, den Rohentwurf
noch nicht vorzulegen. An einem Rohentwurf gibt es naturgemäß einiges
zu kritisieren und zu bemängeln, die Kritik hätte leicht missbraucht
werden können; es wäre ein Leichtes gewesen, mich dann ins
wissenschaftliche Abseits zu stellen. Eine Alternative wäre gewesen, auf
diese Promotion ganz zu verzichten, deren Thema "Reims in
merowingischer Zeit" jedenfalls 1968 aus der Zeit gefallen zu sein
schien. Aber sollte ich wirklich die ganze jahrelange Arbeit verloren
geben? Da ich ohnehin die Universität wechseln wollte, um mein
Jurastudium abzuschließen, ließ ich den Rohentwurf vorerst liegen, um
ruhigere Zeiten abzuwarten.
Als ich hoffen konnte, dass allzu unliebsame Erinnerungen an
mich etwas verblasst waren, schickte ich im Frühherbst 1968 den nunmehr
neu getippten und - wie ich meine - ästhetisch ansprechenden Rohentwurf
meiner Doktorarbeit nach Bonn und ging davon aus, ihn in absehbarer Zeit
mit den entsprechenden Anmerkungen zurück zu erhalten. Das war nicht
der Fall. Ich erinnerte erst sanft, dann nachdrücklicher. Schließlich
kündigte ich nach einem Jahr kurzerhand meinen Besuch an, um die Arbeit
zu besprechen. Am Tag zuvor hatte Prof. Ewig sie endlich gelesen. Die
Besprechung verlief indifferent, höflich. (Draußen im Auto wartete
Hermann Scheer, mit dem ich auf dem Rückweg von Bochum in Bonn Halt
machte. Hermann Scheer war ab 1980 MdB und später Träger des
Alternativen Nobelpreises.)
Viel Wasser war den Rhein herab geflossen, seitdem ich Bonn
vor mehr als einem Jahr verlassen hatte und das ebenso wichtige und
notwendige Gespräch mit Prof. Ewig führen konnte. Diesen Termin auf
später zu verschieben, hätte bei ihm möglicherweise den Eindruck
hinterlassen, dass ich das Promotionsvorhaben sogar ganz aufgegeben
hätte. Misslich war allerdings, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon vor
meinem Jura-Examen stand, das sich einschließlich der mündlichen Prüfung
über einige Monate hinziehen würde. Man lernt auf ein Examen zu. Diese
Phase für die Fortführung der Promotion zu unterbrechen, wäre sehr
unglücklich gewesen. So machte ich 1969 zunächst das 1. jur.
Staatsexamen. Erst Anfang 1970 konnte ich die Arbeit an der Promotion
wieder aufnehmen, d. h. nach einer Unterbrechung von anderthalb Jahren. Das war hart, denn manchmal wusste ich nicht mehr, warum ich zu diesem oder jenem Ergebnis gekommen war.
Neben dem juristischen Referendariat musste ich also die
Endphase der Promotion durchziehen. Beides lag inhaltlich völlig
auseinander, ganz abgesehen davon, dass sich meine Interessen weiter
entwickelt hatten und mich - zu diesem Zeitpunkt - das frühe Mittelalter
nun wirklich nicht mehr interessierte. Der Abschluss der Promotion war
für mich nur noch eine Charakterfrage, was ich einmal begonnen
hatte, wollte ich unbedingt zu Ende bringen. Mit Intelligenz und
wissenschaftlichem Scharfsinn hatte das nichts mehr zu tun. Zeitweise
war ich während des Referendariats in Stuttgart einem Richter zugeteilt,
der mir mit stolzgeschwellter Brust erzählte, dass seine Frau den Dr.
phil. gemacht habe. Ohne nachzudenken warf ich ein, dass ich gerade als
Historiker an meinem Dr. phil. arbeite - womit ich bei ihm für den Rest
der Zeit unten durch war. Er wollte mir wohl beweisen, dass ich
entweder als Jurist oder als Doktorand scheitern müsste, wahrscheinlich
beides.
Zur Doktorarbeit wäre noch hinzuzufügen, dass mir Prof. Ewig das wahrscheinlich interessanteste Kapitel über die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig in Reims
(um 500 n. Chr. - ein wichtiges Datum der abendländischen Geschichte!)
herausgestrichen und auch sonst jeden originellen Gedanken verworfen
hatte. Ich tat wie befohlen; mir war es mittlerweile schlicht egal, ich
wollte die Promotion nur noch abschließen. Ende 1970 schickte ich den
nochmals überarbeiteten Text an die Bonner Philosophische Fakultät,
ohne dass ich die endgültige Fassung vom Doktorvater hatte absegnen
lassen. Einen nochmaligen Aufschub wollte ich auf keinen Fall hinnehmen -
sonst wäre die Promotion womöglich noch unendlich hinausgezogen worden.
Eine entsprechende Bemerkung habe ich in meinem Anschreiben an den
Dekan einfließen lassen.
Die 2. Berichterstatterin, die neben dem Doktorvater die
Promotion begutachten sollte, war Frau Prof. Edith Ennen. Sie hat sich
massiv beim Dekan und Prof. Ewig wegen meines Drängens für einen
baldigen Termin des Rigorosums, der mündlichen Prüfung, beschwert, wörtlich: "mir widerfahrene Ungebühr" .
Sie ließ mir eine Kopie ihrer Beschwerde zukommen. Die Vorgeschichte
interessierte sie nicht. Im Rigorosum bei Prof. Hubatsch setzte sich
Frau Dr. Iselin Gundermann, Mitarbeiterin am Historischen Institut, mit
der erkennbaren Absicht dazu, zu verhindern, dass irgendetwas anbrennt.
In der Promotionsurkunde heißt es: Examina "magna cum laude" superavit. Bei der wenig feierlichen Promotion mit Übergabe der Urkunde sprach mich der Dekan Hatto H. Schmitt mit den Worten an: "So, so...Sie sind das!"
In späteren Jahren habe ich gern gesagt, dass ich bei einem Prof. Ewig promoviert habe und es dann auch "ewig"
gedauert habe - um dann nach einer kleinen Pause zu ergänzen: was ich
mir eigentlich gleich hätte denken können. Die Probleme meiner Promotion
in Zeiten der Studentenrevolte waren für mich schnell der Schnee von
gestern. (In der 1. Auflage der Autobiografie war ich auch nur
kursorisch darauf eingegangen.) Neue herausfordernde und dramatische
Lebensumstände traten mit Herbert Wehner und Karl Wienand kurz danach in den Vordergrund.
[Die Promotionsarbeit wurde von der Bayerischen Staatsbibliothek München ins Netz gestellt (www.mgh-bibliothek.de/0/092793.pdf) und der University of California (2009) digitalisiert. Sie kann unter dem Titel "Reims in merowingischer Zeit" aufgerufen und gelesen werden.]
Nachtrag: Die Spätantike und der Übergang ins
Mittelalter sind übrigens als historisches Thema keineswegs so abwegig
und uninteressant, wie es nach dem Bericht über meine Promotion aus
meiner damaligen Sicht scheinen mag. Im Ruhestand griff ich alte Ideen
und Ansätze wieder auf, an deren Ausführung ich Ende der 1960er Jahre
gehindert worden war. Die Kontroverse zwischen Augustinus und Pelagius
z. B. weist vor dem Hintergrund des Untergangs von Rom wirtschaftliche
und soziale Probleme auf, die auch unserer Zeit wieder hochaktuell und
spannend erscheinen: "Armut und Reichtum" war gerade damals ein
brennendes Thema. Der Kirchenvater Augustinus hat diesem Streit die
letzten 30 Jahre seines Lebens gewidmet. (Anhang 4: "Arm und Reich: der Streit zwischen Augustinus und Pelagius und der Untergang von Rom"; www.guntram-von-schenck.de)
Stuttgart / JUSOS
Ich verließ 1969 die Universität Tübingen und trat mit dem
Referendariat beim Oberlandesgericht Stuttgart in die erste Phase des
Berufslebens ein. Die Entwicklungen der Studentenbewegung bekam ich nur
noch aus der Distanz mit, wie durch einen Filter gedämpft. Selbst bei
den Gerichtsreferendaren fand die Studentenbewegung einen Widerhall. Auf
einer Versammlung der baden-württembergischen Referendare wurden Jörg Lang
und ich als Sprecher gewählt. Mit Jörg Lang war ich selten einig. Aber
in der Sprecherfunktion wurden wir u. a. vom damaligen Stuttgarter
Justizminister Schieler (SPD) empfangen, der mich gleich für sein
Ministerium anwerben wollte. Jörg Lang kam als Referendar zum Rechtsanwaltbüro Croissant
in Stuttgart und geriet von da in die Sympathisantenszene um
Bader-Meinhof. Er musste untertauchen (soviel ich weiß im Libanon) und
gehörte zu den meistgesuchten Terroristen, dessen Foto auf den
einschlägigen Fahndungsplakaten prangte. Erst Anfang 1980 konnte er sich
wieder an die Öffentlichkeit wagen. Ich meine, dass wir uns in Bonn
Anfang der 1980er Jahre über den Weg gelaufen sind, uns gegenseitig
erkannt haben, aber nicht grüßten.
Geradezu spielerisch übernahmen wir - d. h. der SHB Tübingen
und Heidelberg - den Landesverband der Jungsozialisten
Baden-Württemberg. Wir hatten trotz erheblicher Distanz zur Mutterpartei
den Kontakt zur SPD nie aufgegeben. Letzteres galt im Übrigen auch für
einige aus dem SDS. Das Parteibuch fest in den Händen, hatten wir schon
im Herbst beschlossen, den "Marsch durch die Institutionen"
anzutreten und mit dem Juso-Landesverband zu beginnen. Da war niemand,
der sich uns entgegen stellte. Zwar war der Stuttgarter Innenminister
Krause (SPD) auf der Delegiertenversammlung anwesend, konnte aber unsere
Offensive nicht stoppen. Der Kern unserer Truppe liest sich wie das
"Who is Who" späterer Abgeordneter und sonstiger Funktionsträger.
Hermann Scheer, MdB seit 1980, später mit dem Alternativen
Nobelpreis ausgezeichnet, und Gert Weisskirchen, MdB seit 1976, ab 1998
außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, kamen vom SHB
Heidelberg. Der nachmalige Europa-Abgeordnete Willi Rothley, im
Europaparlament in Straßburg dann Fachmann für Diätfragen und ich kamen
aus Tübingen. Nach meiner nicht ganz sicheren Erinnerung kamen zu dieser
Juso-Landesdelegiertenkonferenz auch der spätere
"Spiegel"-Ressortleiter Außenpolitik, Richard Kiessler, ebenfalls SHB
Tübingen, sowie aus Konstanz Karlheinz Bentele, später Staatssekretär in
NRW und 2008 während der Finanzkrise kurzzeitig Mitglied des
Bankenrettungsfonds (Soffin). Karsten D. Voigt, ab 1976 MdB und
führender SPD-Außenpolitiker, hielt ein Grundsatzreferat, mit dem er
sich für seine - erfolgreiche - Kandidatur um den Juso-Bundesvorsitz
bewarb. Aus jener Zeit datieren Bekanntschaften und Freundschaften, ein Netzwerk, in dem ich mich ein Berufsleben lang bewegen sollte.
Nach einem frustrierenden Tag als Referendar am
Oberlandesgericht Stuttgart kam ich einmal beim dpa-Büro Stuttgart
vorbei und ließ ein paar kritische Sätze über den schon genannten
Innenminister Krause fallen. Tags darauf verbreitete die Landespresse in
einem Dreispalter: "Jusos drohen Krause". Die Droge Politik
hatte mich seit Ende der 1960er Jahre fest im Griff. Ein Leben außerhalb
oder ohne enge Berührung zur Politik konnte ich mir nicht mehr
vorstellen. Die Treffen im kleinen Kreis, die Sitzungen in den
Hinterzimmern, die kleinen und größeren Tagungen zu politischen Themen
waren mir keine Last, sie wurden zu meinem Lebenselixier, in dem ich
aufblühte. Abends und an Wochenenden hielt ich z. B. Kurse für junge
Gewerkschafter in Marxismus. Ich merkte nicht, dass ich süchtig geworden
war.
Das einzige, das mich bremste und aufhielt, waren die
Verpflichtungen als Referendar und der Endschliff an meiner
Doktorarbeit. Sie waren die Voraussetzung für eine bürgerliche Existenz.
Soviel hatte ich aus meinem Elternhaus mitbekommen, dass es ohne solche
Rückversicherungen auf Dauer nicht ging. Der Weg in das, was einige mit
"Berufsrevolutionär" bezeichneten, war nicht meiner. Auf der anderen
Seite konnte ich mir ein Leben z. B. als Anwalt, auch als engagierter Anwalt
nicht vorstellen. Mir war aufgefallen, wie einige Anwälte schon aus dem
ersten Anruf eines potentiellen Mandanten herauszuhören verstanden, wie
viel Geld wohl aus dieser Rechtssache herauszuholen war. Meine Sache
war das nicht. Meinen Vater empörte zutiefst, dass ich zwei Angebote für
eine Universitätslaufbahn ausgeschlagen hatte.