Guntram von Schenck
Januar 2018



Bundeswehr-Tradition
und die
Stammtafeln der Althessischen Ritterschaft




"Selig sind sie Friedfertigen, besonders wenn sie kämpfen können". Melville


Die Althessische Ritterschaft hat ihren Ursprung im Mittelalter als "Kriegerkaste". Sie führt bis heute einige der ererbten Traditionen fort. Die in ihr zusammen geschlossenen hessischen Adelsfamilien veröffentlichen in unregelmäßigen Abständen aktualisierte genealogische Stammtafeln. Den Stammtafeln der (z.T. fehlerhaften) Edition 2017, Eigenverlag, Ritterschaftliches Stift Kaufungen, ist eine Gedenktafel vorangestellt, die an die enormen Verluste der hessischen Adelsfamilien im Zweiten Weltkrieg erinnert. Die mit Geburts- und Todesdaten genannten 92 Personen waren bis auf wenige Ausnahmen Angehörige der deutschen Streitkräfte.

Die Gedenktafel benennt sie alle als "Opfer des Zweiten Weltkriegs". Das ist fragwürdig und führt uns mitten hinein in die Diskussion um die deutsche Militärtradition heute. Beides zu verknüpfen hat seinen Reiz, steht doch die Althessische Ritterschaft repräsentativ für die adligen Wehrmachtsoffiziere und deren Nachkommen.

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Opfer ist, wer ohne eigenes Zutun unschuldig zu Schaden kommt. Täter ist, wer Schaden verursacht. (Die strafrechtliche Diskussion um Täter, die selbst wieder Opfer der Umstände, z. B. unglückliche Kindheit o. ä., wurden, gehört nicht hierher.) In Kriegszeiten wurden bis 1945 gemeinhin an Kriegshandlungen unbeteiligte Zivilpersonen als Opfer, Angehörige des Militärs hingegen als Kriegsversehrte und Gefallene bezeichnet. In den meisten Ländern ist das bis heute üblich und Kriegsteilnehmer werden als Veteranen oder Gefallene geehrt, in den USA sogar als Helden. Das galt gleichfalls für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, man denke an die monumentalen Kriegerdenkmale, die allerorten errichtet wurden.

Nach dem 2. Weltkrieg war das anders. Am Stolperstein der Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg verzagt die deutsche Diskussion um eine tragfähige deutsche Militärtradition bis heute. Es gelingt ihr nicht, diese Hürde überzeugend zu überwinden. Zum deutschen Militär im Zweiten Weltkrieg gibt es in der Tat unterschiedliche, sehr kontroverse Ansichten, auf die hier - allerdings nur - stichwortartig eingegangen werden kann.


Die deutsche Sicht

In Deutschland haben wir heute eine überwiegend negative Einstellung zum deutschen Militär im Zweiten Weltkrieg. Dafür gibt es mehrere Gründe:

Heldenverehrung war nach der totalen Niederlage und der bedingungslosen Kapitulation am 8./9. Mai 1945 sicher nicht angesagt. Die allmähliche Rückkehr von zerlumpten und halb verhungerten deutschen Kriegsgefangenen in die Heimat war nicht dazu angetan. Es gab Einzelfälle, in denen etwa Ritterkreuzträger oder erfolgreiche Jagdpiloten im privaten Rahmen Anerkennung erhielten, aber die Regel war das nicht.

Nach 1945 bis zum Beginn des Kalten Krieges war es durchgängige Politik der Siegermächte und Kriegsgegner, das deutsche Militär als Kriegsverbrecher zu diskreditieren oder zumindest unter einen Generalverdacht zu stellen. Die Nürnberger Prozesse waren der deutlichste - aber nicht der einzige - Ausdruck dieser Politik. Die Briten knüpften damit an eine Politik an, die sie schon nach dem Ersten Weltkrieg verfolgten, als sie die Auslieferung von Kaiser Wilhelm II als Kriegsverbrecher forderten.

Aus der Geschichte wissen wir, dass Besiegte zur Zerknirschung und Reue neigen und die Frage stellen, wer ihnen das eingebrockt hat. Die enormen Verluste, insbesondere im letzten Kriegsjahr, hatten viele Familien in tiefe Trauer gestürzt. Das Elend nach dem Krieg, die Vertriebenen- und Flüchtlingsströme, der Hunger, die zerstörten Städte warfen die Schuldfrage auf, die im weiten Sinne mit dem Militär in Verbindung gebracht wurde. Den Siegesmeldungen der ersten Kriegsjahre folgte der Katzenjammer einer traumatischen Niederlage.

In den 1970er Jahren trat der Holocaust, der Mord an 6 Millionen Juden, mehr und mehr ins öffentliche Bewusstsein. Der Satz von Norbert Blüm (CDU-Sozialminister): "... die ungeheuren Verbrechen in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern konnten weitergehen, solange die deutschen Fronten hielten..." warf einen schweren und dunklen Schatten auf die Wehrmacht. Dafür kämpften die deutschen Soldaten ganz sicher nicht. Aber im öffentlichen Bewusstsein verschwimmt heute der Zweite Weltkrieg mit dem Holocaust vielfach zu einem undifferenzierten Gesamtbild des Schreckens.

Der Einsatz von Teilen der Wehrmacht im Kampf gegen Partisanen ist ein heikles und schwieriges Thema nicht nur in den vom Krieg betroffenen Ländern sondern in Deutschland selbst. Verstörende Nachrichten über unverhältnismäßige Repressalien wühlen immer wieder die deutsche und internationale Öffentlichkeit auf. Oradour, Lidice und andere Orte sollen und werden nicht vergessen. Hier kann die Problematik nicht ausdiskutiert werden, aber es lohnt sich ein Blick in die Schrift von Carl Schmitt: "Theorie des Partisanen", Duncker& Humblot, Berlin 1963. (Carl Schmitt ist umstritten, aber es ist noch immer die beste deutschsprachige Studie zum Thema.)

Schließlich hat die Wehrmachtausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1945" von 1995 - 1999 und (korrigiert) 2001 - 2004 die weitverbreitete Ansicht, die Wehrmacht sei im Wesentlichen sauber geblieben, in Frage gestellt. Die Ausstellung wurde in vielen Städten in Deutschland und Österreich und später in englischer Version im Ausland gezeigt. Die daran anknüpfenden, kontroversen Diskussionen führten zur Klärung einiger Fakten; als allgemeiner Eindruck blieb hängen, dass Teile der Wehrmacht insbesondere im Osten z. T. schwere Schuld auf sich geladen hatten.

Im Ergebnis der genannten Punkte sehen weite Teile der deutschen Öffentlichkeit das deutsche Militär 1939 - 1945 als "Täter" und nicht als "Opfer": Teile der deutschen Streitkräfte und deren Angehörige waren demnach in Kriegsverbrechen oder Schlimmeres verstrickt. Die Sichtweise färbt in der Öffentlichkeit zusehends auch auf die deutsche Kriegsführung im Ersten Weltkrieg ab. Das ist falsch, wird aber von den entsprechend eingestimmten Medien oft übernommen.


Deutschland wehrlos

Die Folge ist heute eine in der Bundesrepublik weit verbreitete Ablehnung von allem, was mit Militär zu tun hat. Militäreinsätze im Ausland sind nicht nur unpopulär sondern noch immer nur unter restriktiven Bedingungen möglich. Kommt es bei den Auslandseinsätzen zu Gewaltanwendungen oder zu Todesfällen, werden diese kritisch untersucht und in die Nähe von Verbrechen gerückt: Der Soldat als Vorstufe zum Verbrecher - mit fließendem Übergang.

Einzelfälle von Fehlverhalten in der Bundeswehr werden zum Generalverdacht gegenüber der Bundeswehr aufgebauscht, nicht nur von sensationslüsternen Medien sondern der Spitze des Verteidigungsministeriums selbst. Der Krieg als (manchmal) notwendiges Mittel der Politik bleibt tabu. So lehnt Bundeskanzlerin Angela Merkel es grundsätzlich ab, militärische Kampfeinsätze als Mittel der Politik auch nur in Betracht zu ziehen (siehe Ukraine).

Das Fehlen militärischen Denkens in Deutschland wird im befreundeten Ausland kritisch wahrgenommen, aber auch von klugen Mitbürgern/Innen beklagt: Deutschland hat mental völlig abgerüstet. Eine Gesellschaft, die sich im Ernstfall - auch im Notwehrfall - nicht verteidigen kann oder will und sich auf Dritte für seinen Schutz verlässt, wird zum Objekt und Opfer der Politik Dritter - und das in einem zunehmend problematischen, internationalen Umfeld. Deutschland wird Spielball fremder Interessen, mit Scheckbuch-Diplomatie lässt sich nicht alles regeln.


Die Sicht des Auslands

Im Ausland gibt es einen anderen Blick auf die Wehrmacht, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten und Abstufungen, wie z. B. in den USA, Großbritannien, Frankreich und im Baltikum. Zwar nimmt man die deutschen Selbstbezichtigungen gern zur Kenntnis - entlasten sie doch die eigene Kriegsführung von nicht wenigen Vorwürfen und Anschuldigungen. Es ist Respekt vor den deutschen militärischen Leistungen, der zum Ausdruck kommt.

Raymond Aron, französischer Philosoph, Politikwissenschaftler und Publizist, folgte de Gaulle nach Frankreichs Niederlage 1940 nach London und gründete dort die Zeitschrift "France libre". Man wird ihm schwerlich eine wohlwollende Einstellung gegenüber der Wehrmacht zuschreiben können. Dennoch schreibt er:
"Im 19. Jahrhundert wird das vom Preußen der Hohenzollern geeinte Deutschland zur ersten Macht auf dem Kontinent. Seine Armee blieb bis 1945 die beste Europas und der Welt. Sie trug im Lauf der beiden Kriege des 20. Jahrhunderts glänzende Siege davon" (R. Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, Propyläen 1980, S. 348 & passim).

Martin van Crefeld, israelischer Militärexperte, von daher einer prodeutschen Haltung eher unverdächtig:
"Das deutsche Heer war eine vorzügliche Kampforganisation. Im Hinblick auf Moral, Elan, Truppenzusammenhalt und Elastizität war ihm wahrscheinlich unter den Armeen des zwanzigsten Jahrhunderts keine ebenbürtig" (M. v. Crefeld, Kampfkraft. Militärische Organisation und Leistung der deutschen und amerikanischen Armee 1939 -1945, Ares Verlag, Graz 2005, 4. Aufl., S. 189).

Jean Rudolf von Salis, Schweizer Historiker, von dem die bekannt-berühmten kritischen Kommentare des Schweizer Rundfunks (Radio Beromünster) während des 2. Weltkriegs stammen:
"So wenig die Deutschen in ihrem politischen Leben freien Bürgergeist ...kennen, so sind sie im Militär zu größtem Mut und zur Fortsetzung des Kampfes bereit, wenn es ihnen befohlen wird. Das Ergebnis ist, daß zwar Deutschland in furchtbare Leiden gestürzt wurde und noch wird, daß es aber an seinen Grenzen noch einmal unter Aufbietung der letzten Kräfte Widerstand leistet..." (J. R. von Salis, Weltchronik 1939 - 1945, Zürich 1966, S. 454).


Wir kapitulieren nie!

Schon während des Krieges begann in Deutschland 1943 nach Stalingrad die Rede, "Opfer eines unsinnigen Krieges" zu sein, eine Redewendung, die nach dem Krieg immer mehr Anhänger fand.

Der Widerstand der deutschen Streitkräfte bis zur letzten Stunde im April/Mai 1945 war mit schweren Verlusten verbunden (im letzten Jahr mehr als in allen vorherigen Kriegsjahren zusammen). Dennoch wurde entschlossen weiter gekämpft: nicht nur an der Ostfront, sondern im Westen u. a. in den Ardennen, im Elsaß, wo jedes Dorf verteidigt wurde , im Hürtgenwald bei Aachen, wo die USA schwere Verluste erlitten. Beim Kampf um Berlin von Mitte bis Ende April 1945 lieferte die Wehrmacht noch einmal eine letzte Schlacht. Die Rote Armee hatte nach eigenen Angaben Verluste von 304 000 Mann. Das war kein kläglicher Untergang, wie z. B. die viel gezeigten Bilder von Hitler mit seinen Hitlerjungen als letztem Aufgebot glauben lassen. (Zum Vergleich: die Briten hatten in der Somme-Schlacht im Ersten Weltkrieg, die ein halbes Jahr von Juli bis Dezember 1916 tobte, 420 000 Mann Verluste).

Teile des Reichstags wurden Anfang Mai 1945 noch verteidigt, nachdem Hitler bereits Selbstmord begangen und die Rote Armee auf dem Reichstag die Rote Siegesfahne gehisst hatte. Und nicht zu vergessen: Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, wurde noch im April 1945 in der Lüneburger Heide verwundet, Richard von Weizsäcker, der spätere Bundespräsident, ebenfalls im April 1945 in Ostpreußen. Sie waren aktive Offiziere, die bis wenige Wochen vor Kriegsende weiter kämpften. Beide wird man schwerlich als irregeleitete NS-Durchhalte-Fanatiker bezeichnen wollen. Man kann diese Haltung, wie gesagt, als "unsinnig" bezeichnen, da der Krieg verloren war. (Verloren war er allerdings bereits im November/Dezember 1941, als Russland nicht überrannt und Moskau nicht eingenommen werden konnte.)

In das Gesamtbild gehört, dass Churchill sich im Mai 1940 im britischen Kriegskabinett nach der Niederlage Frankreichs und der verlorenen Schlacht von Dünkirchen für die Fortführung des Krieges mit dem Argument durchgesetzt hat: "...dass Nationen, die kämpfend untergingen, sich wieder erheben würden, jene aber, die kapitulierten, am Ende seien..." (zit. nach Ian Kershaw, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 65). Eine Statue Churchills steht heute in Paris an zentraler Stelle auf dem rechten Seine-Ufer neben dem Petit Palais mit der einzigen Inschrift: "We shall never surrender" (Wir kapitulieren nie). Wem der Bezug auf Churchill in diesem Zusammenhang nicht behagt, findet ähnliche Aussagen bei Clausewitz (Vom Kriege, VI, 26).


[Einschub: Im Übrigen war diese Haltung Teil des verpflichtenden Ehrenkodexes der deutschen Armeen im 18./19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als französische Truppen 1800 die württembergische Festung Hohentwiel zur Übergabe aufforderten, und der Kommandant, der nur rd. 70 invalide, alte Männer aufbieten konnte, kapitulierte, wurde er zur Strafe von den Württembergern in der Festung Hohenasperg eingekerkert und hat bis zu seinem Tod unter härtesten Bedingungen (z. B. kein Buch o. ä.) nie wieder das Tageslicht erblickt.

Wer ohne Zustimmung der Obrigkeit kapitulierte, wurde hart bestraft, auch wenn die Kapitulation in der gegebenen Lage augenscheinlich das einzig Sinnvolle war. In unserer Zeit ist so etwas kaum nachvollziehbar. Wir sollten uns aber hüten, die damalige Haltung nach unseren heutigen Ansichten zu beurteilen und Maßstäbe anzulegen, die in der Vergangenheit andere waren. Überdies fühlten sich die Franzosen nicht an die dem Kommandanten gegebenen Zusagen gebunden und haben die Festung Hohentwiel gesprengt.]


Es ist festzuhalten, dass das Durchhalten bis April/Mai 1945 den damaligen, nicht nur deutschen Auffassungen entsprach und - so gut es eben ging - von den deutschen Streitkräften, insbesondere dem Offizierskorps, mitgetragen wurde. Sie genügten ihrer Pflicht. Es war kein passiver "Opfergang in einem unsinnigen Krieg", sondern eine aktive Beteiligung an der Fortsetzung des Krieges bis zum Schluss. Der Satz: "Wir kapitulieren nie!", war kein leeres Wort.


Täter - Opfer - Helden?

Wir haben heute - zugegeben: grob und schematisch gezeichnet - zwei gegensätzliche Wahrnehmungen des deutschen Militärs im Zweiten Weltkrieg: Im Inland überwiegend ein Niedermachen und eine Kriminalisierung der Wehrmacht, mit der Folge eines mangelnden oder fehlenden deutschen Wehrwillens; im Ausland eine Art Respekt, wenn nicht z. T. eine - wenn auch ambivalente - Hochachtung im Hinblick auf die militärischen Leistungen.

Beide Sichtweisen lassen keinen Zweifel, dass es sich bei den Angehörigen der deutschen Streitkräfte um aktiv Beteiligte handelte. Sie waren "Täter" und keine "Opfer". Ob sie als "Täter" vor allem Soldaten waren, die pflichtbewusst (z. T. wider bessere eigene Einsicht) entsprechend den damaligen Vorstellungen unter Einsatz ihres Lebens bis zum Schluss kämpften oder ob sie teilweise auch Übeltäter/Kriegsverbrecher waren, ist kaum zu entscheiden. Es gibt Grauzonen zwischen Licht und Dunkel, Pauschalaussagen sind nicht möglich.

Um auch die Frage zu stellen, ob sie vielleicht "Helden" waren: Folgt man Churchill (oder Clausewitz) so haben sie - indem sie "kämpfend untergingen" - den Wiederaufstieg der deutschen Nation möglich gemacht. Die Zukunft wird zeigen, ob ihnen dafür einmal ein Denkmal gesetzt wird. (Als das deutsche Militär am 8./9. Mai 1945 schließlich kapitulierte, war es nur noch eine Formsache: Deutschland war besetzt, die Hauptstadt Berlin erobert, nennenswerte deutsche Streitkräfte nicht mehr vorhanden.)


Neue Lage: 70 Jahre nach Kriegsende

Die Siegermächte hatten nach 1945 stets eine an die politische Lage angepasste Einstellung gegenüber dem deutschen Militär. Sie machten, was aus ihrer Sicht opportun war. Von 1945 bis zum Beginn des Kalten Krieges ging es darum, den Deutschen das Kriegsführen gründlich zu verleiden und das deutsche Militär moralisch so massiv zu diskreditieren, dass aus Deutschland nie wieder eine militärische Bedrohung für seine Nachbarn erwachsen sollte.

Mit dem Kalten Krieg und dem Aufbau der Bundeswehr im Westen und der Nationalen Volksarmee im Osten änderte sich das, da man auf beiden Seiten auf das Offizierskorps und Unteroffiziere der Wehrmacht für den Aufbau dieser Armeen nicht verzichten konnte und wollte. In der NATO und den Warschauer Pakt eingebunden, richteten die Deutschen in Ost und West die Waffen gegeneinander, das deutsche Militär war neutralisiert.

Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989, der Wiedervereinigung 1990 und dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums war die Bundeswehr kein großes Thema: Deutschland und andere wollten die Friedensdividende genießen und rüsteten massiv ab. Die allgemeine Wehrpflicht wurde in Deutschland ohne wirkliche Diskussion ausgesetzt und die Bundeswehr eine verkleinerte Berufsarmee.

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich internationale Lage allerdings bedrohlich gewandelt. Das vom amerikanischen Politikwissenschaftler Fukuyama ausgerufene "Ende der Geschichte" und der ewige Friede traten mit dem Sieg des Westens und der liberalen Demokratie nicht ein und erwiesen sich als Illusion. Die Geschichte blieb wie immer offen: Neue Bedrohungen beendeten die kurze Zeit der allgemeinen Sorglosigkeit und unangefochtenen Vorherrschaft des Westens.

Radikale Islamisten bringen Terror und Tod in unsere Straßen, Putins Russland lässt die Muskeln spielen, annektiert die Krim und führt Krieg in der Ostukraine und in Syrien; das europäische Einigungswerk kriselt, Migrationswellen verunsichern die Menschen nicht nur in Europa; US-Präsident Trump versieht das NATO-Bündnis mit einem Fragezeichen, Großbritannien kehrt Europa den Rücken. Alles mit noch unabsehbaren Folgen...

Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA haben seit 1945 eigene Erfahrungen in antikolonialen Kriegen u. a. in Algerien, Indochina, Kenia, Malaysia und mit asymmetrischen Partisanenkriegen in Vietnam, Tschetschenien oder Afghanistan gemacht. Das relativiert vieles im Blick auf die deutsche Kriegsführung 1939 - 1945. Soweit ich sehe, ist fast nur noch die englische Geschichtsschreibung - mit zweifelhaften Motiven - an der Kriminalisierung der Wehrmacht interessiert. Es ist charakteristisch für die englische Politik, dass sie Dritte dessen bezichtigt, was sie selbst macht - von der Kriegsführung bis zur Internet-Spionage.

In diesen Zusammenhang ist nicht zuletzt der von der UNO-Generalsekretär Kofi Annan als "völkerrechtswidrig" , d. h. als illegal verurteilte Irakkrieg 2003 der USA und ihres Hauptverbündeten Großbritannien zu nennen. Wie man sich erinnert, wurden deutsche Militärs in Nürnberg 1945 auch wegen Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges zum Tode verurteilt. Manchmal hat es den Anschein, dass nur noch die Deutschen an den Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozessen als einem Markstein der Rechtsgeschichte festhalten.

Das deutsche Militär wird im Ausland ganz überwiegend nicht mehr als bedrohlich wahrgenommen. Im Gegenteil: Den Deutschen wird empfohlen, endlich ihre Komplexe abzulegen und (ihre) auch militärische Verantwortung in Europa und in der Welt wahrzunehmen (u. a. Paul Taylor in der erweiterten US-Plattform POLITICO EU vom 12. 10. 2017). Deutsche Truppen sind im Rahmen der NATO in Litauen stationiert, was den Litauern dem Vernehmen nach zu einem ruhigen Schlaf verhilft. Der Londoner ECONOMIST erinnert die Deutschen (und Kanzlerin Merkel) mit Blick auf die Ukraine an das Diktum von Friedrich II, König von Preußen: "Diplomatie ohne Waffen ist wie Musik ohne Instrumente".


In der Tradition von Clausewitz

Wenn wir diesen Erwartungen entsprechen und uns als Deutsche engagieren, dann sollten wir nicht nach dem Motto handeln "Germans to the front" (Deutsche an die Front), weil andere das gern hätten, sondern ausschließlich im eigenen "nationalen Interesse". Im ureigenen deutschen Interesse liegt heute der Schutz der Europäischen Union (vgl. meine Schriften "Europa und das deutsche nationale Interesse" und "Ukraine, Europa und das deutsche nationale Interesse" (www.guntram-von-schenck.de oder Google Suchwort: "deutsches interesse").

Dafür brauchen wir Streitkräfte, die - die Exzesse des 2. Weltkriegs strikt unterbindend - an die militärischen Qualitäten der an Clausewitz geschulten deutschen Armeen von 1815 - 1945 anschließen. Nur auf eigenen deutschen Traditionen, nicht in einer Art geschichtsleerem Raum, kann mit Erfolg - durchaus korrigierend - Tradition weiterentwickelt werden. Wer hat denn die Bundeswehr in den 1950er Jahren aufgebaut? Es waren die Offiziere und Unteroffiziere der ehemaligen Wehrmacht. Sie haben die Bundeswehr in den wichtigen, entscheidenden Anfangsjahren mitgeprägt. Die Wehrmacht ist damit ganz konkret Teil des Traditionsgepäcks der Bundeswehr. Die Kontinuität ist nicht zu leugnen, da hilft kein Exorzismus.


Zur Begründung der Tradition der Bundeswehr trägt der Bezug auf den den 20. Juli 1944 nicht wirklich. Als die Verschwörer um Graf Stauffenberg endlich zur Tat schritten - bis dahin waren sie aktiver Teil des deutschen Militärapparats - war es zu spät: Die endgültige Niederlage stand nach der Landung der Alliierten in Frankreich und dem Durchbruch der Roten Armee im Mittelabschnitt der Ostfront fest. Für Generalstabsoffiziere war die Verschwörung dilletantisch vorbereitet und ohne die notwendige Entschiedenheit durchgeführt worden (Ernst Jünger, Paris Juli 1944: "Man muss schiessen!"). Es war ehrenvoll, dass die Verschwörer endlich zur Tat schritten. Aber sie waren, wie sich beim Studium ihrer politischen Einstellungen zeigt, keineswegs Demokraten.

Völlig problematisch ist der Verweis auf die Gefallenen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr, die eine neue eigene, von der Wehrmacht abgesetzte Tradition begründen sollen. Jahrelang wurde gestritten, ob dieser Einsatz überhaupt Krieg genannt werden darf. Deutschland hat am Hindukusch keine nationalen Interessen. Es sei denn, eine Vasallenfunktion für die USA wäre mit unseren nationalen Interessen gleich zu setzen, was nicht der Fall ist. Da die USA die Intervention in den Sand gesetzt haben, ziehen wir mit ihnen unverrichteter Dinge wieder aus Afghanistan ab. Die Intervention war von Anfang an politisch und militärisch falsch angelegt (vgl. "Afghanistan - raus aus!", www.guntram-von-schenck.de). Auf diesem Afghanistan-Einsatz und den getöteten deutschen Soldaten eine neue Bundeswehrtradition aufbauen zu wollen, wäre ein fürchterlicher Irrtum.


Unsere Streitkräfte müssen uns in die Lage versetzen, notfalls auch Russland - gemeinsam mit EU-Partnern - Paroli bieten zu können. Auf das von Präsident Trump geführte Amerika ist kein zureichender Verlass mehr, Frankreichs Präsident hat die NATO für "hirntot" erklärt und der britische Defence Secretary, Ben Wallace, forderte, dass Großbritannien sich darauf vorbereiten müsse, ohne US-Hilfe Kriege führen zu können (GUARDIAN: 12.01.2020). Auch Deutschland muss seine Sicherheitspolitik umbauen und auf die neuen Gegebenheiten einstellen. Für viele Milliarden Euro pro Jahr und künftig steigenden Haushaltsmitteln muss mehr erreichbar sein als der derzeit inakzeptable, ja verheerende Zustand der Bundeswehr. Polemisch zugespitzt: mit Statisten samt angeschlossenem Kindergarten ist niemand gedient - uns nicht und auch nicht unseren Verbündeten.

Familien wie die der Althessischen Ritterschaft könnten einen Beitrag leisten: Beginnend mit den Kreuzzügen ist in Jahrhunderten des Militär- und Kriegsdienstes ein genetischer Fundus angelegt, der vielfach brachliegt. Es ist an der Zeit, Opfermentalität, Larmoyanz und Selbstmitleid zu überwinden.

Voraussetzung ist freilich, dass die deutschen Streitkräfte auf die politische Führung voll vertrauen können; ein Vertrauen, das die Nazis niemals verdienten. Der Primat der Politik muss unangefochten bleiben. Dafür müssen wir mit eigenem politischen Engagement einstehen.



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Der Althessischen Ritterschaft obliegt bis heute die Verwaltung des Kaufunger Stifts, das 1532 von Landgraf Philipp dem Gutmütigen dem hessischen Adel zur Versorgung von Witwen und unverheirateten Töchtern übergeben wurde. Das Stift übernahm damit die Funktion von Frauenklöstern, die im Zuge der Reformation aufgehoben wurden. Es ist die älteste Stiftung Hessens.

Guntram von Schenck
Januar 2018



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