Angst des Westens vor Islam
Guntram von Schenck, Kairo 1994
 
Die Angst des Westens vor dem Islam

aus: Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, November 1994, Seiten 1028 – 1035

Der islamische Fundamentalismus (besser: islamischer Integrismus) mobilisiert Kräfte von großer politischer Schubkraft. Der Iran und Sudan werden von Integristen beherrscht, ihre Machtübernahme in Algerien scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Ägypten, das wichtigste arabische Land, wirkt angesichts der integristischen Drohungen wie gelähmt. In fast allen anderen arabischen und islamischen Staaten sind die Integristen in der einen oder anderen Weise ein Problem für die Regierung. Im Westen fürchtet man mögliche Konsequenzen, die von Flüchtlingswellen, dem Abbruch des israelisch-arabischen Friedensprozesses bis hin zu Konfrontationen nach dem Muster: USA - (nachrevolutionärer) Iran reichen.

Das Problem ist nicht neu und beschäftigt die Regierungen des Nahen und Mittleren Ostens sowie des Westens unter Einschluß der Institutionen der Politikberatung und Publizistik seit spätestens anderthalb Jahrzehnten. Ein Konsens, wie der islamische Integrismus einzuschätzen ist und wie mit ihm politisch um­gegangen werden sollte, zeichnet sich freilich nicht ab. Es erscheint dennoch zweckmäßig, die Erfahrungen, die bisher mit den verschiedenen Politiken oder Politikansätzen gemacht worden sind, im Hinblick auf mögliche Folgerungen zu sichten. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit in gleicher Weise auf die Regierungen im arabisch-islamischen Raum und die Regierungen des Westens. Einbezogen werden muß auch Rußland, dessen Politik gegenüber den südlichen Gus-Staaten und Afghanistan von größter Bedeutung für die Region ist.

I

In vorderster Front der Auseinandersetzung mit dem islamischen Integrismus stehen die meisten Regierungen der Region selbst. Der Bürgerkrieg in Algerien, der halbe Bürgerkrieg in Ägypten, die Integrations- und Abwehrversuche in Jordanien und Tunis machen die Probleme deutlich, vor die der Integrismus die nahöstlichen Regierungen stellt. Nicht einmal dort-, wo sich, wie im Iran, der islamische Integrismus durchgesetzt hat, ist die Regierung in dieser Beziehung von Problemen frei. Rivalisierende Gruppen, wie die >Volksmudjahedin Iran<, bekämpfen die Regierung auf den Tod. Das gleiche gilt für die verfeindeten integristischen Parteien in Afghanistan, die nach dem Untergang des kommunistischen Regimes erbittert um die Macht im Lande kämpfen. Auch das Reich der Wahabiten, Saudi Arabien, das sich als integristisch versteht, und von wo jahrelang viele integristische Gruppen in der ganzen islamischen Welt finanziert worden sind, sieht sich neuerdings selst gefährdet und hat die Finanzierung solcher Kräfte eingestellt.

Die Regierungen im Nahen und Mittleren Osten müssen sich auf ganz unterschiedliche Ausprägungen des islamischen Integrismus einstellen. Der islamische Integrismus ist - ebensowenig wie der Islam - keine einheitliche und geschlossene Bewegung. Die islamische Irredenta auf den südlichen Philippinen, integristische Gruppen im Maghreb oder in Tadjikistan haben untereinander so wenig gemein wie mit islamisch-integristischen Minderheitsgrup­pen in Westeuropa. Die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen, politischen und auch ethnischen Bedingungen ihrer Entstehung und Ent­faltung sind jeweils grundverschieden. Doch gibt es, oft explizit, manchmal nur atmosphärisch, eine Übereinstimmung: in der Ablehnung des westlichen >way of life< und einigen seiner inhärenten Werte. Der westliche >way of life< und die eigenen Eliten, denen vorgeworfen wird, ihn zu kopieren, werden als >gottlos< kritisiert, wobei die Kritik eher milde aus dem Mund von Predigern aber auch anders - aus dem Lauf der Gewehre - kommen kann.

Die Reaktionen auf die integristische Herausforderung sind von Land zu Land verschieden. Zwischen den Regierungen und den jewei­ligen integristischen Kräften sind Interaktionsfelder entstanden, die von beiden bestimmt werden. Die Extreme der Interaktion können mit dem Beispiel Syrien auf der einen Seite und Jordanien auf der anderen Seite beschrieben werden. In Syrien hat das Baath-Regime von Hafez Assad zu Beginn des Jahres 1982 die Agitation der integristischen Moslembrüder mit brutalster Repression niedergeschlagen. Die mittelsyrische Stadt Hama, eine Hochburg der Moslembrüder, wurde praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Schätzungsweise 25 000 Menschen sind allein bei diesem Massaker ums Leben gekommen. Dem sog. Aufstand von Hama vorausgegangen war eine jahrelange Agitation der Moslembrüder, die in mehreren bewaffneten Anschlägen kulminierte. Seither wird jede Regung der Moslembrüder mit eiserner Hand unterdrückt.

König Hussein von Jordanien hat von vornherein eine andere Politik eingeschlagen. Anders als dem laizistischen syrischen Regime schlug ihm auch weniger Ablehnung von seiten der Integristen entgegen. Frühzeitig hat er versucht, die Integristen einzubinden und hat ihnen auch, z. B. vor dem syrischen Zugriff, Zuflucht gewährt. Aber auch sein Verhältnis mit den Integristen war nicht konfliktfrei, es hat ein Auf und Ab gegeben. Aber Vertreter der Integristen können an Wahlen teilnehmen, sitzen im Parlament und hatten Ministerämter inne. Damit steht Jordanien für das andere Extrem, bis zu dem sich eine Regierung des Nahen Ostens hinbewegt hat, den man als Versuch der Integration bezeichnen kann.

Zwischen diesen beiden Extremen gibt es ebensoviele Varianten wie es Regierungen in diesem Raum gibt. Es gibt die totale oder dosierte Repression und/oder das aufrichtige, halbherzige oder lediglich taktisch gemeinte Gesprächsangebot gegenüber den Integristen. Der Anschein von Rechtsstaatlichkeit wird aufrecht erhalten oder es wird eine unerträglich breite rechtliche Grauzone geschaffen, in der sich die Integristen bewegen müssen. Legale Hürden für die Zulassung und Betätigungen integristischer Parteien werden aufgebaut, z. B. keine Zulassung von Parteien auf religiöser Grundlage. Natürlich wird versucht, die Bewegung in >Radikale< und >Gemäßigte< zu spalten, mit dem Angebot, die >Gemäßigten< in die Verantwortung einzubeziehen. Das taktische Geschick der Regierungen sowie die Persönlichkeiten der Führung der Integristen spielen dabei eine Rolle.

Allen Regierungen im arabisch-islamischen Raum ist allerdings eine Strategie gemeinsam. Sie fördern die religiöse Renaissance des Islam nachdrücklich. Im Schulunterricht, an den Universitäten, in den Medien, insbesondere im Fernsehen, machen religiöse Inhalte einen stets wachsenden Anteil aus. Gefördert wird aber auch von staatlicher Seite der Bau von Moscheen und Pilgerreisen nach Mekka. Alle Regierungen von Syrien bis zum Yemen, von Pakistan bis Marokko, versuchen sich stärker im Islam zu legitimieren. Sie tun dies vielfach auch in der Hoffnung, den Integristen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Im Endeffekt tragen sie zweifellos dazu bei, die Entwicklung zur Reislamisierung zu verbreitern und zu vertiefen.

Der Erfolg aller Gegenmaßnahmen ist bis heute fragwürdig. Zwar herrscht in Syrien seit 1982 Ruhe, aber es ist eine Friedhofsruhe, die sich als äußerst trügerisch erweisen könnte. Die Integrations- und Einbindungsversuche sind vielfach gescheitert (Algerien) oder zurückgeworfen worden (Tunis). Auch in Jordanien kann noch nicht von einem glücklichen Ende des Experiments ausgegangen werden. Der mutige König bleibt allein Garant einer halbwegs stabi­len Entwicklung. Die Unterstützung und Propagierung einer islamischen religiösen Renais­sance durch die Regierungen hat die Funda­mentalisten jedenfalls bis heute keinesfalls geschwächt. Es gibt nicht wenige Stimmen, die im Gegenteil behaupten, daß sie damit den Integristen erst eigentlich richtig den Boden bereiten.

Die nahöstlichen Regierungen haben bisher keine überzeugende Antwort auf die integristische Herausforderung gefunden. Das Laborieren mit taktisch ausgeklügelten Dosierungen von Repression, Ermutigung der religiösen Renaissance, politischem Entgegenkommen, Gesprächsbereitschaft - oder verweigerung und legalen Hürden ist nur geeignet, den Regierungen Zeit zu kaufen. Die Regierungen hoffen darauf, das Problem aussitzen zu können. Welche nahöstliche Regierung könnte heute ins Auge fassen, zu einer Radikallösung nach dem (trügerischen) Muster des syrischen Hama greifen? Oder welche Regierung hat nach dem abrupten Abbruch des Versuchs einer Integra­tion der Integristen in Algerien den Mut, eine demokratische Öffnung des Systems zu wagen, die diesen Namen verdient?

Die Folge ist eine Lähmung der Politik, die die Regierungen hindert, notwendige Reformen insbesondere im wirtschaftlichen, aber auch an­deren Bereichen in Angriff zu nehmen und durchzuführen. Die Auseinandersetzung mit der integristischen Herausforderung, die oft auch innerhalb der Regierungen zu Verwerfungen führt, ist so kräftezehrend, daß für andere wichtige Aufgaben die Energie fehlt. Der Versuch, über die Runden zu kommen und Zeit zu gewinnen, führt zu einer Stagnation, die den Nährboden für die Integristen vergrößert. So werden Wirtschaftsreformen unterlassen und verschoben, weil die Integristen die damit verbundenen Belastungen zu ihren Gunsten ausnutzen könnten (Streichung von Preissubventionen, Privatisierungen, die zu Entlassungen führen können etc.). Mangels grundlegender Reformen wird sich jedoch mittel- oder langfristig die ökonomische und soziale Lage ver­schlechtern und bleibende unhaltbare soziale Mißstände die fundamentalistischen Agitationsfelder verbreitern.

Die meisten Regierungen im Nahen Osten sind gleichwohl bestrebt, nach innen und außen den Eindruck zu vermitteln, sie hätten die Lage im Griff. Mangels anderer Argumente verweisen sie auf die Unterstützung von Armee und Polizei, auf die sie sich im äußersten Fall verlassen könnten. Sie wissen natürlich, daß gerade die Armeen im Nahen Osten häufig Ausgangspunkt von Umstürzen waren, und haben diese deshalb mit einem Netz von Geheimdiensten überzogen. Auch tragen sie auf andere Weise für deren Loyalität Sorge. Das hat bisher weit­gehend funktioniert und entscheidend zur erstaunlichen Langlebigkeit einiger nahöstlicher Regime beigetragen (Syrien, Irak, Libyen, aber auch Ägypten).

II

Die Regierungen des Westens, einschließlich Rußlands, reagieren nicht minder unschlüssig. Es gibt zudem ein Wahrnehmungsproblem in­nerhalb und zwischen den Regierungen. Sehen die einen im islamischen Fundamentalismus die Bedrohung der kommenden Jahrzehnte schlechthin, wird von anderer Seite abgewiegelt, differenziert und relativiert. So sehen die USA Iran als Hauptfeind und umgekehrt, während zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Iran zwar keine herzlichen, aber doch recht gute Beziehungen bestehen. Unklarheit besteht auch darüber, worin die Bedrohung eigentlich besteht. Ist es der staatlich gelenkte oder tolerierte internationale Terrorismus, die Furcht vor Flüchtlingswellen oder möglichen Angriffen (Chemiewaffen?) gegenwärtiger oder künftiger radikaler Regime (Ghaddafi, Saddam Hussein) oder die Bedrohung des Zugangs zu den Ölquellen? Oder ist es gar das Heraufdämmern eines neuen Mittelalters, das die Universalität westlicher Werte wie Demokratie, Menschenrechte etc. in weiten Teilen der Welt außer Kraft setzen könnte?

Entsprechend disparat sind die Reaktionen. Rußland interveniert offen im Bürgerkrieg in Tadjikistan (zwischen Ex-Kommunisten und Integristen), Teile des Westens versuchen (ohne Erfolg) eine Politik des >containment< gegenüber dem Iran, dem Sudan und Libyen (USA, GB, F). Der abgebrochene Demokratisierungsversuch und der Militärputsch in Algerien wird hingenommen, und das Militärregime sogar mehr oder weniger offen unterstützt. Die Öffnungs- und Integrationspolitik Jordaniens gegenüber dem Fundamentalismus wird begrüßt, obwohl es von dort offenkundige Querverbin­dungen zur palästinensischen Hamas-Bewegung gibt. Die Regierungen, die mit Repressi­onsmaßnahmen das Problem in den Griff zu bekommen versuchen, wie Tunis, vor allem aber auch Ägypten, werden wegen >Menschen­rechtsverletzungen< manchmal eher milde kriti­siert, dann aber auch wieder deutlich an den Pranger gestellt. Unvergessen ist, daß das iranische Schah-Regime von den USA mit dem Vor­wurf von >Menschenrechtsverletzungen< destabilisiert wurde, mit der Folge eines Siegs der Integristen unter Führung Khomeinis.

Afghanistan spielt in diesem Zusammen­hang eine besondere Rolle. An diesem Beispiel wird die Widersprüchlichkeit der Einwirkungen von außen und der Folgen für die ganze Region besonders deutlich. Moskau hat den Einmarsch 1979 nicht zuletzt mit der islamischen Bedro­hung für den Süden der Sowjetunion begrün­det. Der Westen hat die Integristen moralisch, finanziell und mit Waffen in ihrem Kampf ge­gen die sowjetische Besatzung unterstützt. Diese Unterstützung hielt auch nach dem un­rühmlichen Rückzug der Roten Armee aus Afghanistan bis zum Sturz des kommunistischen Präsidenten Nadjibullah an. Heute toben im benachbarten Tadjikistan ebenfalls Kämpfe zwischen Integristen und Laizisten... Die aus Afghanistan zurückkehrenden >Freiwilligen< bilden in der gesamten islamischen Welt den Kern der integristischen Terrorzellen und werden, soweit greifbar, sofort in Haft genommen.

Wie auch immer die Außenwelt reagierte, eine glückliche Hand gegenüber dem Integrismus haben weder der Westen, noch die Sowjetunion, bzw. Rußland, bisher bewiesen.

III

Wie könnte eine Reaktion des Westens gegen­über dem islamischen Fundamentalismus und seinen politischen Dimensionen aussehen? Zunächst sollte man sich von der Vorstellung frei machen, der Westen hätte alles, wenn er nur wolle, im Griff und könne jede Entwicklung im Sinne seiner Interessen steuern. Ein Teil des Bedrohungsgefühles im Westen dürfte genau davon herrühren, daß dieser Entwicklung sich jeder Einflußnahme durch den Westen entzieht. Die Gedanken und Worte der Prediger in der islamischen Welt entziehen sich jeder westlichen Kontrolle - und nicht nur dieser. Es wäre vergeblich, sich der Reislamisierung entgegenstemmen zu wollen. Sie ist zu elementar und macht auch vor dezidiert laizistischen islamischen Staaten, wie der Türkei, nicht halt.

Wasser auf die Mühlen der Fundamentali­sten sind offenkundige doppelte Standards des Westens gegenüber der islamischen Welt. Sie lassen Glaubwürdigkeitsdefizite entstehen, die zu einer Diskreditierung der westlichen Politik insgesamt führen. Dies betrifft Bosnien, die von Israel besetzten Gebiete und Algerien wo der Westen schlimmste Menschenrechtsverletzun­gen zu übersehen scheint, während vergleichbare Vorgänge etwa im Irak, kraftvolle Reaktionen des Westens provozieren.

Die aktuellen Vorgänge in Bosnien-Herzegovina, deren Bilder täglich in der gesamten is­lamischen Welt ausgestrahlt werden, scheinen alles zu bestätigen, was sich im Nahen und Mittleren Osten an Ressentiments gegenüber der westlichen Politik aufgebaut hat. Tatenlos scheint der Westen zuzusehen, wie ein mehrheitlich muslimisch geprägtes Staatswesen zerstört, große Teile der muslimischen Bevölke­rung entweder getötet oder interniert, gefol­tert, vergewaltigt, aus ihren Wohnorten vertrieben und auf kaum oder gar nicht lebensfähige >belagerte< Enklaven zurückgedrängt wer­den. Als Gipfel des Zynismus wird gesehen, daß den bosnischen Muslimen sogar eine Art Notwehrrecht, nämlich die Waffen zur Selbstverteidigung, verweigert werden.

Der Symbolgehalt des Geschehens in Bos­nien kommt für die islamische Welt dem des is­raelisch-arabischen Konflikts nahezu gleich. In Bosnien handelt es sich nicht um einen vorderasiatischen, jüdisch-arabisch/islamischen Konflikt, sondern um einen Konflikt zwischen Christen und Muslimen, der sich mitten in Europa und damit in dessen politischem Verantwortungsbereich abspielt. Die westliche Glaubwürdigkeit wird damit vor eine besondere Herausforderung gestellt. Eine Konfliktlösung muß angestrebt und durchgesetzt werden, die den Muslimen in Bosnien nicht nur Existenzrecht und Existenzmöglichkeiten sichert, sondern Entfaltungsmöglichkeiten gibt, die dieser größten bosnischen Bevölkerungsgruppe angemessen sind. Ob dies einen eigenen muslimischen Staat in Bosnien voraussetzt und ob ein solcher Staat überhaupt wünschbar ist, darüber kann nicht abstrakt befunden werden. Nur am Verhandlungstisch kann auch über die Praktibilität einer solchen Lösung, möglicherweise im Rah­men einer Konföderation, entschieden werden.

Wenn die Friedenslösung dauerhaft sein soll, darf sie nicht von Muslimen, die in äußerster Not nach diesem Strohhalm greifen müssen, erzwungen, sondern muß in einem fairen Kompromiß ausgehandelt sein. Gelingt dies nicht, wird in Bosnien eine sich radikalisierende islamische Irredenta fundamentalistischer Prägung ins Kraut schießen, die auch auf andere islamisch besiedelte Regionen auf dem Balkan, wie den Kosovo und den Sandschak, übergreifen wird. Schon jetzt eilen aus der ganzen islamischen Welt >Freiwillige< nach Bosnien (wie einst nach Afghanistan) und es werden (Waffen-)Spenden bereitgestellt, um die Glaubensbrüder auf dem Balkan zu unterstützen. Die Parallele zum israelisch-arabischen Konflikt drängt sich auf. Das Weiterschwären des Konflikts liefert - wie der israelisch-arabische Unruheherd - den islamischen Fundamentalisten stets neue Argumente. Eine gerechte und dau­erhafte Friedenslösung käme dagegen dem Verlust eines wichtigen Teils ihrer Legitimation gleich.

Die Vorgänge in Algerien verstärken die Glaubwürdigkeitskrise des Westens. Demokratie und Menschenrechte wurden, so wird es in der islamischen Welt gesehen, sofort fallengelassen, als die Interessen des Westens oder eine seiner Führungsmächte in Gefahr waren. Das hat verheerende Wirkungen in der ganzen islamischen Welt, nicht nur für die Glaubwürdigkeit und Durchsetzung dieser Werte in diesem Raum. Es schafft ein immenses Ressentiment, das sich aus einem im Islam tief verankerten Gerechtigkeitsempfinden speist.

Die Entwicklung in Algerien zeigt zudem, daß die durch Repression gekaufte Zeit nicht genützt werden kann. Die Repression hat einen Bürgerkrieg zur Folge, der dem Regime alle Kraft raubt, um notwendige Reformen durchzuführen. Sie endet in einer völligen gegenseitigen Blockade zwischen Regime und Integristen, die nur mit einem Sieg einer Seite aufgebrochen werden kann. Da es in Algerien eine >syrische Lösung< (Hama) wohl nicht geben kann - die Entwicklung ist auch zu weit fortgeschritten - scheint eine Machtübernahme durch die Integristen nur noch eine Frage der Zeit. Die Lehre daraus kann nur sein, daß es besser gewesen wäre (und besser ist), wenn der Westen zu seinen eigenen Worten gestanden und das Militärregime in Algerien zur Fortführung der demokratischen Öffnung ermutigt bzw. den Militärputsch unzweideutig verurteilt hätte.

Die vom Westen vertretenen Werte von Demokratie und Menschenrechten müssen mit der außenpolitischen Praxis in Übereinstimmung gebracht werden, wenn dem Integrismus eine wichtige Argumentation genommen werden soll. Das Beispiel Iran zur Zeit des Schahs zeigt allerdings, daß dies zu einer entscheidenden Destabilisierung des Regimes führen kann. Auch in Algerien hätte die Fortsetzung des demokratischen Öffnungsprozesses voraussicht­lich eine Machtübernahme durch die Integristen zur Folge gehabt. Der Entzug der (stillschweigenden) Unterstützung des algerischen Militärregimes wegen des Abbruchs des Wahlprozesses und der Verletzung von Menschenrechten wäre wohl mit dessen Ende gleichzusetzen gewesen. Auch in Ägypten wäre die Regierung Mubarak gefährdet, wenn der Westen mit seiner erklärten Politik, Hilfe von Realisierungen in Sachen Demokratie und Menschenrechte abhängig zu machen, ernst machen würde. Auch im Falle Tunis müßte man einige Fragezeichen setzen.

Und dennoch, das Drängen auf eine recht­zeitige demokratische Öffnungspolitik ist langfristig der einzige Garant für eine tragfähige Entwicklung. Die Repression taugt noch nicht einmal dazu, Zeit zu kaufen, um die Ausgangspositionen der jetzigen Regierenden zu verbessern. Die Entwicklung in den beiden gefährdetsten Staaten, Algerien und Ägypten, legt viel­mehr das Gegenteil nahe. Die Situation verschlimmert sich, die Regierungen werden mehr und mehr handlungsunfähig. Der Druck im Kessel wächst. Der Widerstand gegen die repressiven Regime bekommt - auch im unmittelbar politischen Sinne - immer deutlicher antiwestliche Züge, da das Überleben dieser Regime nicht ganz zu Unrecht mit ihrer Unterstützung durch den Westen in Zusammenhang gebracht wird. Wegschauen und Tolerieren bei Menschenrechtsverletzungen ist demnach ein schwerer Fehler, der vermieden werden sollte.

Freilich kommt es auch sehr darauf an, wie man im Nahen- und Mittleren Osten für Demokratie und Menschenrechte eintritt. Ein Herumpoltern bewirkt gar nichts. Man muß helfen, das Unterfutter: eine zivile Gesellschaft aufzubauen und vor Manipulationen, Übergriffen und Repressionen der Regierungen zu schützen. Es muß auch für alle erkennbar sein, daß die Kritik in Sachen Menschenrechte und Demokratie nicht für die Regierungen irgendwie >auswegslos< ist und die Regierungen destabilisieren soll, sondern daß sie hilfreich sein will. Gerade letztere Kritik ist bisher im Nahen Osten noch nie als hilfreich verstanden worden. Das Empfinden ist hier eher, zu einer Art Kapitulation genötigt zu werden. Man sollte den Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens auch zugestehen, besser: sie dazu anregen, Begriffe und Formen der Demokratie aus der eigenen Tradition zu entwickeln und zu gebrauchen, wenn sie das abdecken, was wir inhaltlich mit Demokratie meinen. Die Demokratie faßt dann leichter Wurzel als mit der Übernahme einer Begrifflichkeit, die in einer anderen Zeit, unter anderen Voraussetzungen und einer anderen, fremden Kultur entwickelt wurde.

Gegen die Unterstützung einer demokrati­schen Öffnungspolitik wird meist argumentiert, daß die Integristen, einmal an der Macht, diese nicht mehr abgäben. Sie würden die demokratischen Freiheiten und Mechanismen nur zum Zweck der Machteroberung benutzen, dann aber sofort außer Kraft setzen. Als Gegenbeweis genügt sicherlich nicht die Zusage der Integristen allein, daß sie sich auch weiterhin an die demokratischen Spielregeln halten würden. Bemerkenswert ist aber immerhin, daß im Oktober 1993 eine integristisch orientierte Regierung in Pakistan per Wahl abgelöst und durch eine von einer Frau geführten Regierung ersetzt wurde. Man sollte auch einige demokratische Elemente im nachrevolutionären Iran nicht übersehen, wenn man sie auch nicht überschätzen sollte. Je früher ein demokratischer Öffnungsprozeß eingeleitet wird, desto besser: Die Wahrscheinlichkeit einer Radikalisierung der integristischen Gruppen nimmt mit der Dauer und Schärfe der Repression zu und die Chancen für einen toleranten Umgang schwinden.

Einsicht in die begrenzte eigene Handlungsmöglichkeit des Westens bedeutet, daß die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem islamischen Integrismus jenen überlassen wird, die dafür am besten gerüstet sind. Gemeint sind jene Kräfte im Islam, die sich der Vereinfachung, Verfinsterung und Verfälschung des Islam widersetzen. Es gibt eine geistige Strömung im Islam, für die die Namen Salman Rushdie, Naguib Mahfouz, Farag Foda u. a. stehen, und die man im weiten Sinne als >liberal< bezeichnen kann. Sie vertreten einen aufgeklärten, offenen Islam. Sie werden von den Fundamentalisten physisch bedroht (Salman Rushdie) oder sind schon Opfer von Attacken geworden (Farag Foda). Aber sie repräsentieren ein breites Spektrum aufgeklärter Muslime, die alles andere wünschen als einen Rückfall in eine Art islamisches Mittelalter. Unnötig zu sagen, daß demokratische Institutionen der beste Garant dafür sind, daß diese Auseinandersetzungen gewaltfrei verlaufen können.

Diese >liberalen< Kräfte gilt es zu unterstützen und zu stärken durch Anteilnahme, Öffentlichkeit und, wenn nötig und möglich, materielle Hilfe. Man muß im Westen erkennen, daß in erster Linie sie, und nicht Organisationen, Repräsentanten etc. des Westens, Ziele der integristischen Angriffe sind. Mit gutem Grund, da sie die lebendige Botschaft dafür sind, daß dem Integrismus keinesfalls eine Art Alleinvertretungsanspruch des Islam zukommt. Im Westen wird diese entscheidende Differenzierung leider oft nicht gesehen und die darin liegenden Chancen unterschätzt und nicht wahrgenommen. Wenn die geistige Auseinandersetzung Sache der Muslimen untereinander ist, sollte der Westen freilich nicht den Fehler begehen, sich einseitig, wenn auch überwiegend negativ, auf die Integristen zu fixieren. Unser bevorzugter Gesprächspartner sollte der >liberale< aufgeklärte Islam sein.

Schließt die Unterstützung des >liberalen< Islam das Gespräch mit den Integristen aus? Es ist verständlich, daß viele Vertreter des >liberalen< Islam gern ein Monopol des Dialogs mit dem Westen hätten. Sie warnen vor Gesprächen mit Integristen, da diese entschieden antiwestlich seien und man ihren Worten ohnehin keinen Glauben schenken könne. Außerdem würden die Integristen damit aufgewertet. Einer Aufwertung bedürfen die Integristen freilich nicht mehr. Ihre Präsenz und Bedeutung ist so augenscheinlich, daß man sie nicht ignorieren kann. Man muß mit ihnen reden, schon um zu erfahren, was sie denken, und um sich ein eigenes Urteil zu bilden. Man wird dabei auch feststellen, daß sie keineswegs durchgängig antiwestlich sind. Der Wille, sich vom Westen abzugrenzen, Distanz zu gewinnen, entspringt vielfach einem Bedürfnis der Rückbesinnung auf sich selbst, auf die eigene religiös-kulturelle Identität, das verständlich und legitim ist.

Reden heißt nicht unterstützen. Aber es läßt sich vielleicht einiges entschärfen oder korrigieren, unnötige Feindseligkeiten können abgebaut werden. Wie mit den kommunistischen Vertretern des einstigen Ostblocks muß eine Balance gefunden werden. Das Gespräch oder der Gedankenaustausch darf nicht in Unterstützung umschlagen. Daß die Vertreter des >liberalen< Islam unsere bevorzugten Partner sind, daran dürfen niemals Zweifel aufkommen. Es wird sehr darauf ankommen, nach allen Seiten Mißverständnisse zu vermeiden. Die Geschichte der Gesprächskontakte mit den Vertretern des früheren Ostblocks zeigt, daß das nicht immer leicht sein wird.

Ein weiterer Aspekt verdient Beachtung. Die Zunahme der Zahl muslimischer Gläubiger in Westeuropa und in den USA, die mehrere Millionen erreicht hat, wurde von der Errichtung (nicht weniger) Stützpunkte verschiedener integristischer Gruppen begleitet. Die Toleranz für Aktivitäten der islamischen Integristen in den Staaten des Westens muß bei der Gefahr von Gewaltanwendungen in Westeuropa und in den USA, aber auch bei Verdacht der Steuerung entsprechender Gewaltanwendung im Nahen und Mittleren Osten streng begrenzt werden. Die Sicherheitskräfte der westlichen Staaten haben in der Vergangenheit zu häufig derartige Aktivitäten übersehen oder nicht sehen wollen. Spätestens seit dem Attentat auf das World Trade Center in New York weiß man, welche Querverbindungen es zwischen islamischen Gruppen im Nahen Osten und Exilorganisatio­nen im Westen gibt. Aus einer Reihe von Gründen sind unsere Sicherheitskräfte schlecht gerüstet, um solchen Gefahren zu begegnen. Diese Defizite müssen jedoch schleunigst abgebaut werden, wenn wir in der Zukunft einige sehr böse Überraschungen vermeiden wollen.

Es wäre eine Illusion, im Westen zu glauben, wir könnten mit einer durchkalkulierten, abgestimmten und koordinierten Politik die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten in die eine oder andere Richtung steuern. Wir kön­nen nur Entwicklungstendenzen unterstützen. Eine Risikoabwägung legt allerdings nahe, auf die Durchsetzung der Demokratie auch in diesem Raum zu setzen. Mit ihrer Hilfe könnten die Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens den wachsenden islamischen Integrismus am ehesten auffangen und die unaus­weichlichen Auseinandersetzungen friedlich austragen. Die Alternative wäre ein Festhalten an repressiven Regimen, die täglich an Kraft und Glaubwürdigkeit verlieren. In gleichem Maße verlöre der Westen mit ihnen Glaubwürdigkeit und Einfluß.


Ergänzung: Vor dem 11.September 2001 hat es bereits am 26. Februar 1993 einen ersten terroristischen Anschlag auf das „World Trade Center“ mit 6 Toten und über 1000 Verletzten gegeben.

Guntram von Schenck
Die Angst des Westens vor dem Islam, in Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte,
November 1994, Seiten 1028 bis 1035

 


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