Dr. Guntram von Schenck, April 2014
Ukraine, Europa und das deutsche nationale Interesse
Principiis obsta! (Wehret den Anfängen!)
In Deutschland sind die Reaktionen auf die russische Politik gegenüber der Ukraine, die Besetzung und Annexion der Krim im März 2014 tief gespalten. Das gilt nicht nur für die öffentliche und veröffentlichte Meinung, es gilt für die Politik, es betrifft den inneren Kern der deutschen politischen Elite. Während z. B. Altkanzler Helmut Schmidt Verständnis für das Vorgehen Putins zeigt und einen Verstoß gegen das Völkerrecht bezweifelt, sieht Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble Parallelen zur Annexion des Sudetenlandes 1938 durch Hitler.
Wolfgang Schäuble und Helmut Schmidt sind keine Randfiguren sondern Repräsentanten breiter, wenn auch ausgefächerter und zum Teil diffuser Meinungsströme. Welche Motive, Interessen, Erfahrungen, Befindlichkeiten und daraus abgeleitete Schlussfolgerungen spiegeln sich darin? Anders gefragt: welche Grundüberzeugungen und Zielvorstellungen stehen dahinter? Oder: welche Konsequenzen hätte es, wenn sich die eine oder die andere Grundausrichtung als bestimmend für die deutsche Politik durchsetzen würde?
Wenn Deutschland in der Europäischen Union (EU) und der NATO eingebunden ist und nicht isoliert entscheidet, so ist es doch in Europa wirtschaftlich von zentraler Bedeutung. Das übersetzt sich aber keineswegs in eine politische Führungsrolle oder gar Hegemonialstellung, wie uns das in letzter Zeit - mit unklaren Motiven - mitunter aus dem Ausland angedient wird. Das wirtschaftliche Gewicht bringt die deutsche Politik vielmehr in eine sehr exponierte Lage, die auf längere Sicht mit ganz erheblichen Risiken für Europa und Deutschland selbst verbunden ist.
Die deutschen und europäischen Interessen müssen deshalb im Hinblick auf die Ukraine klar definiert, in ihrer längerfristigen Bedeutung gewichtet und nach Prioritäten geordnet werden. Nur dann kann die deutsche Politik der ihr zugewachsenen Verantwortung gerecht werden. (Vgl. Guntram von Schenck, Kontinuität deutscher Interessen im 20. Jh., in: Schriften zur Politik und Geschichte, Radolfzell 2012, S. 114 f. und www.guntram-von-schenck.de).
Das deutsche nationale Interesse
Wirtschaft
Es liegt auf der Hand, dass gute und intensive wirtschaftliche Beziehungen zu Russland im deutschen nationalen Interesse liegen. Das betrifft die Energielieferungen aus Russland und die deutschen Güter-Exporte in das Riesenland. Die deutsche und die russische Wirtschaft ergänzen sich, beide profitieren davon. Das gilt für die Gegenwart und war in der Vergangenheit nicht anders. Selbst in den dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges sind die wirtschaftlichen Beziehungen nicht abgebrochen, sondern haben sich trotz der zeitweise massiven Kritik der Westmächte weiter entwickelt.
Die deutsche Wirtschaft will sich davon nicht abbringen lassen und wird - mehr oder weniger offen - von der Politik darin unterstützt. Siemens-Chef Joe Kaeser wies im März 2014 darauf hin, dass sein Konzern seit 162 Jahren Wirtschaftsbeziehungen zu Russland unterhält und trotz politischer Turbulenzen daran festhalten will. Auch in der Vergangenheit hat es heftige politische Verwerfungen mit Russland gegeben. Anfang der 1920er Jahre, also kurz nach der Russischen Revolution, hat der damalige AEG-Chef (und spätere Außenminister), Walter Rathenau, gleichwohl eine deutsch-russische Wirtschaftskooperation gefordert und in der jungen (kommunistischen) Sowjetunion investiert.
Vor diesem historischen Erfahrungshintergrund ist die Annexion der Krim und russische Druck auf die Ukraine für deutsche Wirtschaftsführer zwar keine Lappalie aber auch nicht der große Einschnitt, der zum dauerhaften Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen führen müsste. Trotz aller politischen Differenzen sind die wirtschaftlichen Interessen schlicht zu komplementär, als dass man darauf verzichten wollte. Krim hin, Ukraine her, mit Putin, Gazprom und anderen Vertretern Russlands redet man weiter und denkt an das Morgen und künftige Gewinne. Der mehr oder weniger deutliche Hinweis auf die in Deutschland zu sichernden Arbeitsplätze tut ein Übriges.
Geschichte / Weltkriege
Auch auf anderen Feldern wird die Geschichte zur Begründung des deutschen Interesses an guten Beziehungen zu Russland herangezogen. Deutschland sei politisch immer gut gefahren, solange es gute Beziehungen zu Russland gehabt habe. Schon Bismarck habe als Gründer des Deutschen Nationalstaats 1870/1871 die Bedeutung erkannt und davon profitiert. Das Unglück sei stets über Deutschland gekommen, wenn diese Grundorientierung missachtet wurde - wie im 1. und 2. Weltkrieg. Insbesondere in rechtskonservativen Kreisen (z. B. AfD) findet sich diese Meinung. Was bedeutet da ein kleiner Geländegewinn Russlands, zumal wenn man ihn als eine historisch begründete Wiederangliederung legitimieren kann?
Die Geschichte ist sicher auch der Grund, warum ein großer Teil der deutschen Bevölkerung instinktiv vor einer erneuten Konfrontation mit Russland zurückschreckt. Die beiden Weltkriege, vor allem aber der Zweite Weltkrieg, wecken deutsche Erinnerungen an die Art der Kriegsführung der Wehrmacht im Osten, die besonders heutige Zeitgenossen erschauern lässt. Stalin und seine Rote Armee waren zwar auch nicht besser, aber deren Kriegsführung wird als Gegenreaktion und verständliche Rache angesehen: den Anfang haben die Deutschen gemacht. Daraus speist sich ein schlechtes Gewissen. Grund genug, den Russen einiges nachzusehen.
Kenner der deutsch-russischen Beziehungen erinnern sich an den Frieden von Brest-Litowsk vom März 1918, der der jungen Sowjetunion Lenins von dem im Osten siegreichen Deutschen Reich (gedrängt von der Obersten Heeresleitung: Ludendorff, Hindenburg) diktiert wurde. Die Grenzziehung von Brest-Litowsk entspricht in etwa den Grenzen Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: die Ukraine, das Baltikum, Polen, Finnland, Georgien wurden aus dem Russischen Reich herausgelöst und ( bis Kriegsende als deutsche Satelliten) unabhängig. Aus der Ukraine sollte das deutsche Heer im Westen und die hungernde deutsche Bevölkerung versorgt werden...Wegen der deutschen Niederlage im Westen wurde daraus nur ein kurzlebiges Zwischenspiel.
Wenig im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit ist, dass der Zweite Weltkrieg im Osten vor allem in der Ukraine ausgetragen wurde. Der Hauptstoß der Wehrmacht wurde im Sommer und Herbst 1941 nicht gegen das politische Kraftzentrum der Sowjetunion, die Hauptstadt Moskau, sondern gegen die Ukraine geführt. Hitler glaubte im Gegensatz zu vielen hohen Wehrmachtsoffizieren, dass der Krieg ökonomisch gewonnen werde: Sei die Ukraine erst einmal in deutscher Hand, breche die Sowjetunion zusammen und der Krieg sei entschieden. Das war zwar eine Fehlkalkulation, aber In den folgenden Kriegsjahren war vor allem die Ukraine Hauptkriegsschauplatz. (Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat in seinem großen Werk "Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin", Random House, London 2010 diese blutgetränkte Auseinandersetzung eindringlich dargestellt.)
Konsequenz
Deutschland hat beide Weltkriege verloren und - je nach Ausgangsdatum 1914 oder 1937 - mit einer Amputation von rund einem Viertel bis ein Drittel seines Territoriums und mit einer knapp fünf Jahrzehnte dauerrnden Teilung (1945-1990) bezahlt. Selbst für Unbelehrbare war klar: eine Wiederholung kann/darf es nicht geben. Die Lehre war so nachdrücklich, dass eine radikale Umkehr des Verständnisses deutscher Interessen stattfand: nie wieder Krieg, vor allem nicht im Osten. Das deutsche Interesse verbat fortan kategorisch eine mit Waffengewalt verbundene Politik, insbesondere in Mittel- und Osteuropa. (Eine ähnliche Umkehr machte England nach dem Hundertjährigen Krieg im 15. Jh. , als es Frankreich und das europäische Festland verließ und sein Heil und Glück auf den Meeren suchte.)
Als Folge der Um- und Neudefinition deutscher Interessen galt jetzt geradezu reflexartig: möglichst Vermeidung von Feindseligkeit gegenüber Moskau, Beschwichtigung von Konflikten, Ausgleich der Interessen, wenn nicht sogar den Schulterschluss mit Moskau. Nicht nur SPD-Politiker (z. B. Gerhard Schröder) waren und sind aus unterschiedlichen Motiven Verfechter dieser Politik: u. a. Linke, Rechtskonservative, Friedensbewegte, Pazifisten und Wirtschaftskreise treffen als ungleiche Partner in diesem Meinungsspektrum zusammen. Sie prägen einen nicht geringen Teil der deutschen Öffentlichkeit. Im Kern sind es jedoch immer nationale Befindlichkeiten und Interessen, die der jeweiligen Meinung zugrunde liegen. Das Gesamtergebnis ist Verständnis für Russland.
Kritik
Was sind für "Russland-Versteher" schon Verstöße gegen die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit oder ähnliches? Was ist das schon, ein Landraub - mit Einsatz illegaler Truppen? Die Krim: was geht uns das an? Schwamm drüber: abgehakt. Völkerrecht: was soll das? Haben wir doch selbst schon gebrochen. Die Geschäfte müssen weiter gehen, der Handel soll blühen. Der in Kategorien deutscher Interessen und Befindlichkeiten befangene Deutsche versteht die Russen: Sie holen ja nur wieder, was sie einmal vor ein oder zwei Jahrhunderten erobert haben. Sie haben Verständnis dafür, wenn Moskau das eroberte Land zur "ewigen russischen Erde" erklärt, die bei passender Gelegenheit mit Waffengewalt zurückgeholt, bzw. wieder "eingesammelt" werden kann.
Der "Russland-Versteher" entpuppt sich somit als jemand, dem die deutschen Befindlichkeiten und Interessen über alles gehen. Er glaubt, er habe die Wahrheit gepachtet, eine Wahrheit, die ihm in zwei verlorenen Weltkriegen zugewachsen ist. Deshalb vermeint er zu wissen, was zu tun sei. Die Polemik liegt nahe: an seinem Wesen soll die Welt genesen. Ohne sich wirklich darüber klar zu sein, stellt er die deutschen Befindlichkeiten, Sichtweisen, Erfahrungen, Motivationen und Interessen an die oberste Stelle. Der in nationalen Denkweisen befangene Deutsche kleidet sich heute in das Gewand des stets friedfertigen, beschwichtigenden Gutmenschen, der (nur) ungestört seinen Geschäften nachgehen will.
Probleme der Umdeutung der nationalen Interessen
Die Umdeutung der deutschen Interessen ist nach zwei verlorenen Weltkriegen die Konsequenz ganz besonderer Umstände. Zwei Weltkriege mit ihren Folgen sind eine absolut einzigartige Erfahrung. Keine andere europäische (oder sonstige) Nation hat in der jüngeren Geschichte derart einschneidende Erfahrungen gemacht und verarbeiten müssen. Eine Verallgemeinerung dieser Erfahrungen ist schon aus diesem Grund hochproblematisch. Andere Nationen, Staaten und Regierungen urteilen und handeln anders. Sie bestimmen in ihrer großen Mehrheit die Spielregeln der internationalen Politik. Wer sich nicht daran hält, geht ein hohes Risiko ein.
Nationale Interessenvertretung ist natürlich legitim, aber sie findet dort ihre Grenzen, wo höherrangige Interessen entgegen stehen: z. B. Völkerrecht, Respekt der Souveränität und territorialen Integrität anderer Staaten, Freiheit vor Bedrohung mit Waffengewalt und ökonomischer Erpressung. Aber daran haben sich , wie die Geschichte zeigt, national bis nationalistisch denkende Deutsche noch selten gestört, weder bei sich selbst, noch bei Dritten. Es ist erschreckend und beschämend, wenn deutsche Politiker, Publizisten, Wirtschaftsführer usw. diese Werte relativieren und vom Tisch wischen. Sie müssen sich bewusst werden, welches Erbe sie damit antreten.
Europäische Interessen
Deutschland ist Mitglied der Europäischen Union und hat sich zu der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verpflichtet. Innerhalb der EU kann/muss Deutschland natürlich seine nationalen Interessen vertreten und zur Geltung bringen. Das ist nicht schwer, denn als stärkste Wirtschaftsmacht hat Berlin eine gewichtige Stimme und wird gehört. Letztlich muss es aber den Konsens suchen und sich dann diesen Konsens zu eigen machen. Es erhöht das Gewicht Deutschlands, wenn es sich im internationalen Konzert außerhalb Europas zum Sprecher europäischer Interessen machen kann, indem es sich auf diesen Konsens stützt.
Die Interessen der Staaten innerhalb der EU sind nicht immer identisch. Ein Konsens ist manchmal nicht leicht zu erreichen. Eine härtere Gangart gegenüber Moskau fordern im Hinblick auf die Ukraine und die Krim vor allem die Staaten, die früher zum Warschauer Pakt gehörten, sowie die, die aus der Sowjetunion ausgeschieden und unabhängig geworden sind. Die Erfahrungen, die sie mit Russland als bestimmende Macht in der früheren Sowjetunion gemacht haben, waren offenbar so schlecht, dass sie sich in höchste Alarmbereitschaft versetzt fühlen. Der tschechische Präsident Zeman drohte unverhohlen mit Militäreinsatz, sollte Russland über die Krim hinaus Militärgewalt gegen die Ukraine einsetzen.
Die südlichen EU-Staaten sind weiter weg, eine unmittelbare Bedrohung sehen sie nicht. Frankreich hat momentan andere Sorgen: es blickt über den Mittelmeerraum hinweg nach Afrika, wo sich in der Sahelzone eine gefährliche Lage zusammengebraut hat (Mali, Zentralafrikanische Republik). Großbritannien hat zwar 1994 im Budapester Memorandum die Unabhängigkeit und territoriale Unabhängigkeit der Ukraine zusammen mit den USA und Russland garantiert, fürchtet aber um seine wirtschaftlichen Interessen und Investitionen. Von Paris und London ist eher weniger Einsatz diplomatischer, wirtschaftlicher oder gar militärischer Art zu erwarten.
Deutsche Führungsrolle?
Die Blicke richten sich auf Deutschland, ihm wird eine ungeliebte Rolle angetragen. Die geographische Lage und das wirtschaftliche Potential legen eine Führungsrolle nahe. Sollte oder kann die Bundesregierung in dieser Krise eine aktive und nach außen und innen sichtbare Politik machen? Es gibt europäische Interessen, die in Osteuropa nicht unbedingt mit denen der USA übereinstimmen. Besteht für die Bundesregierung nicht die Notwendigkeit, als Sprecher und Verfechter eines europäischen Konsenses unter Hintanstellung eigener deutscher Interessen aufzutreten? Könnte Berlin nicht auf diese Weise Glaubwürdigkeit und Gewicht gewinnen, indem es Erwartungen von EU-Partnern an eine deutsche Führungsrolle erfüllt?
Die Last der Geschichte spricht , wie oben dargelegt, dagegen. Ein historisch begründetes, latentes Unbehagen (in manchen Fällen offenes Misstrauen) ist weiter in ganz Europa Deutschland gegenüber vorhanden. Es hat für Polen und Balten zudem eine konkrete Wurzel im sog. Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, als Mittelosteuropa zwischen der UdSSR und dem Deutschen Reich aufgeteilt wurde. Dieser Pakt machte den Weg frei für den Beginn des 2. Weltkriegs und läutete eine unheilvolle Periode verlorener Unabhängigkeit für diese Länder ein. Muss sich die Bundesregierung deshalb weiterhin in den dunklen Schatten der Geschichte wegducken und das Krisenmanagement anderen, insbesondere den USA und der (eher) schwachen EU-Außenbeauftragten überlassen?
Was Berlin nicht darf, ist bei den Osteuropäern: den Polen, Tschechen , Balten, Rumänen den Eindruck aufkommen lassen, auf die Deutschen sei bei der Vertretung ihrer Interessen gegenüber Russland kein Verlass. Das würde nicht nur alte Gräben aufreißen und Misstrauen säen. Berlin muss deren Sorgen aufnehmen, eng mit ihnen kooperieren und sich zum absolut zuverlässigen Partner dieser Länder machen. Denn die Sorgen sind berechtigt, nicht nur im Hinblick auf die großen russischen Minderheiten in den baltischen Staaten und Moldawien (Transnistrien). In Berlin müssen die Osteuropäer einen absolut krisensicheren Rückhalt finden. Nichts wäre tödlicher als der Eindruck, den Deutschen wären die bilateralen Beziehungen zu Russland wichtiger.
Geopolitik
Die Ukraine ist für die EU von kaum zu überschätzender Bedeutung. Es geht um geopolitische, strategische Interessen. Das Völkerrecht und internationale Verträge mag man bemühen, Schutz bieten sie der Ukraine im Zweifel nicht, wie die Annexion der Krim und der Bruch des Budapester Memorandums von 1994 durch Russland zeigt. Letztlich entscheidend ist eine auf reale Macht und Einfluss gegründete Realpolitik. Mit dem von Putin organisierten Eurasischen Block (Russland, Weißrussland, Kasachstan) ist Russland eine Großmacht. Der Ständige Sitz mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat und der Besitz von Atomwaffen verleihen Russland trotz rückständiger Wirtschaft Einfluss und internationalen Status. Nach Einvernahme der Ukraine wäre Russland wieder eine Weltmacht.
Ein ständiger Druck auf die EU-Ostgrenzen wäre die Folge. Man denke nur an die russischen Bevölkerungsanteile im Baltikum, Moldawien... Deshalb ist die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine nicht verhandelbar. Was mit der Krim begonnen hat und sich mit der militärischen Bedrohung und wirtschaftlichen Erpressung der Ukraine fortsetzt, ist russische Politik mit Weltmachtambitionen. (Vgl. Guntram von Schenck, Rede im Rahmen eines Kolloquiums in der Assemblée Nationale (Parlament Frankreichs) am 2. Juli 1998, abgedruckt in: Témoin (Revue bimestrielle, Editions Ballard), L´euro plus rien comme avant?, Hors série, Nov./Déc. 1998, S. 131-133). Der ukrainischen Regierung muss im europäischen Interesse alle Unterstützung gewährt werden, um ein Zerbrechen und/oder die Einverleibung dieses Staates durch russische Machterweiterung zu verhindern.
Alle EU-Partner haben das verstanden, als sie den politischen Teil des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine unterzeichnet haben. Eine Anerkennung der Annexion der Krim kommt nicht in Frage. Bundesminister Wolfgang Schäuble ist hart kritisiert worden, weil er eine Parallele zur Besetzung des Sudetenlandes durch Nazideutschland 1938 aufgezeigt hat. Im Münchner Abkommen ist die Annexion des Sudetenlandes international anerkannt worden. Das darf sich mit der Krim nicht wiederholen. Die internationale Gemeinschaft sollte daraus die richtigen Lehren ziehen. Ein so schwerwiegende Fehler darf nicht nochmals gemacht werden. Schon die alten Römer wussten: "principiis obsta!" (Wehret den Anfängen!).
NATO
Die Krise um die Ukraine und die russische Annexion der Krim zeigen, wie notwendig eine schlagkräftige und effiziente EU-Außen- und Sicherheitspolitik wäre. In Ermangelung dessen kann die EU froh sein, dass die NATO, die lange Zeit nur noch auf dem Papier zu existieren schien, wieder zum Leben erwacht. Die Unterstützung der EU-Außen- und Sicherheitspolitik durch die USA und andere NATO-Partner ist entscheidend. Militaerische Abschreckung und Abwehrbereitschaft bleiben auch im 21. Jahrhundert notwendig. Der Ausschluss militaerischer Optionen darf nicht zum Dogma werden. Der Londoner "Economist" zitiert in diesem Zusammenhang Friedrich II, Koenig von Preussen, genannt der Grosse:"Diplomatie ohne Waffen ist wie Musik ohne Instrumente".
Nationale oder europäische Politik?
Die bisherige Russlandpolitik der EU ist gescheitert. Die daran geknüpften Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Putins Russland spielt nicht mit: Russland strebt wieder Weltmachtstatus an - auf Kosten der EU. Putin versucht, die EU aufzuweichen und Keile zwischen die Partnerländer zu treiben: hier lockt er mit Energielieferungen, dort mit Investitionen, hier droht er, dort schmeichelt er. Er weiß um die Verletzlichkeit der Solidarität unter den EU-Staaten. Wird die EU in der Gefahr eher zusammenrücken? Welcher EU-Staat ist versucht, die nationale Karte zu spielen? Moskau versucht, auf dem historisch vertrauten Klavier europäischer Nationalstaaten zu spielen und die EU als neue geopolitische Kraft zu unterlaufen.
Die Europäische Union sieht sich vor eine Bewährungsprobe gestellt. Werden in der Europäischen Union nationalstaatliches Denken und die Vertretung nationaler Interessen wieder dominant, wird die EU dem Druck Moskaus nicht gewachsen sein. Die vielfach in der EU zu beobachtende Renationalisierung ist natürlich auch in Moskau nicht verborgen geblieben. Ganz offensichtlich setzt Putin darauf und stärkt gezielt nationalistische Parteien und Gruppen in Europa. Putin versucht, die EU zu sprengen. In der Krise um die Ukraine sucht und findet er einen wirksamen Hebel. Putin kann sein Eurasisches Projekt durchsetzen, wenn die EU wieder in Nationalstaaten zerfällt. (Vgl. Timothy Snyder, Putins Projekt, faz.net vom 15. April 2014.)
Die deutsche Politik steht in der Ukraine-Krise unter verschärfter Beobachtung. Agiert sie zu sichtbar, wird sie schon aus diesem Grund Widerspruch ernten. Wer immer aus dem Ausland Berlin eine hervorgehobene Rolle andient, wird dennoch jeden kleinsten Fehler registrieren und aufblähen. Verfolgt die Bundesregierung in erster Linie wirtschaftlich begründete und historisch hergeleitete nationale Interessen wird sie das Misstrauen unserer östlichen EU-Partner ernten, die einen deutschen Egoismus in dieser zentralen Frage niemals vergessen werden. Sie werden schon aus diesem Grund eine besondere Rolle Deutschlands in Ostmitteleuropa vehement ablehnen (müssen). Die Folge wäre eine Renationalisierung in der EU mit unabsehbaren Weiterungen.
Deutschland muss sich entscheiden
Die Bundesregierung kann in der Ukraine-Krise ein effizientes europäisches Krisenmanagement mitgestalten. Sie kann dabei Anerkennung, Vertrauen und Glaubwürdigkeit gewinnen. Vertritt sie die speziellen deutschen Interessen und bleibt der Gedankenwelt der deutschen Nationalpolitiker, Nationalisten, Russland-Versteher, Abwiegler und Beschwichtiger verhaftet und/oder verfolgt prioritär deutsche Wirtschaftsinteressen, dann verstärkt sie die Kräfte der Renationalisierung in der EU und spielt Im Endeffekt auf die eine oder andere Weise Moskau in die Hände. Die Krise der Ukraine wird zur Krise der EU. Der Triumpf Putins wäre vollkommen.
Oder die Bundesregierung bietet den ostmitteleuropäischen EU-Partnern einen absolut zuverlässigen, soldarischen Rückhalt und Schutz. Einen Mittelweg in Sachen Ukraine gibt es nicht. Der Versuch, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, lähmen Europa und säen Misstrauen. Die deutsche Politik und Diplomatie muss über den Versuch hinauswachsen, lediglich Gesprächskanäle aufrecht zu erhalten oder herzustellen - das ist wichtig, aber nicht alles. Die deutsche Politik muss vor allem wissen , was sie will und wofür sie einsteht: darüber muss absolute Klarheit bestehen. Sonst wird Deutschland von allen Seiten als ein unzuverlässiger, problematischer Partner wahrgenommen, der letztlich isoliert dasteht.
Zum Denken in Kategorien des nationalen Interesses gehört das Gewichten und Einordnen der jeweiligen nationalen Interessen unter höherrangige und überwölbende Interessen. Das deutsche Interesse ist angesichts der Aggression Russlands in das EU-Interesse eingebettet, es ist mit diesem identisch. Verfolgt Deutschland dagegen ohne Rücksichtnahme auf die EU-Partner und das internationale Umfeld primär spezifische deutsche Interessen, hätte das für den Bestand und die Zukunft der EU schwerwiegende negative Folgen. Gegen das richtig verstandene deutsche nationale Interesse handelt, wer entgegen dem europäischen Gesamtinteresse kurzsichtig auf deutschen Sonderinteressen beharrt.
Fazit: Der Schutz der EU-Partner und die Verteidigung der EU-Interessen in Osteuropa liegen im wohlverstandenen deutschen nationalen Interesse.
Guntram von Schenck April 2014
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