Geschichte, Geschichtsperzeption und Politik
Dr. Guntram von Schenck, Dezember 2007
 
Geschichte - Geschichtsperzeption - Politik
1918 - Dolchstoßlegende
1945 - Befreiung?
1945 - Stunde Null?
1990 - Deutsche Einheit - von Freunden umgeben?

Die Frage, ob und was aus der Geschichte gelernt werden kann, ist oft gestellt worden. Friedrich Schiller (1789: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?) und Friedrich Nietzsche (1874: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) haben neben vielen anderen die Frage umkreist und unterschiedliche Antworten gegeben. Der Ehrgeiz nachfolgender Zeilen ist geringer. Es soll versucht werden, Lehren aus der Geschichte, vermeintliche und tatsächliche, darauf zu überprüfen, was die Politik daraus gemacht hat, wie sie sich auf die konkrete Politik ausgewirkt haben und welche Gefährdungen sich daraus ergeben können. Politik bezieht sich in den großen Fragen stets auf Vorangegangenes und baut notwendigerweise darauf auf. Politiker, Staatsmänner sind Kinder ihrer Zeit und argumentieren und handeln innerhalb eines politisch-kulturellen Bezugssystems von Erfahrung, das in einem Staat, einer Nation oder zum Teil sogar universell weitgehend geteilt und vermittelbar ist. Diese Erfahrung nennen wir die - immer selektive - Wahrnehmung oder Perzeption der Geschichte.

Es liegt nahe, Beispiele aus der deutschen Geschichte heranzuziehen. Sie bietet Beispiele zuhauf. Sie sind beängstigend existentiell.

I.  1918 - Dolchstoßlegende

Im Herbst 1918 hatte das Deutsche Reich (und mit ihm Österreich-Ungarn) militärisch den 1. Weltkrieg verloren. Die gegnerische Übermacht war 1918 nach dem Eintritt der USA 1917 in den Krieg zu groß, das Zahlenverhältnis an Soldaten war 6 zu 1 zuungunsten des Deutschen Reiches, wirtschaftlich waren die Ungleichgewichte noch klarer. Am 8.8.1918 durchbrachen die Truppen der Ententemächte bei Amiens in Nordfrankreich die deutsche Frontlinie, die in den kommenden Wochen kontinuierlich zurückgenommen werden musste. Im deutschen Heer machten sich  Auflösungserscheinungen bemerkbar und Massendesertionen häuften sich. Die militärische Niederlage war unabwendbar geworden.

Die deutsche Oberste  Heeresleitung mit Hindenburg und Ludendorff forderten  am 29. Sept.1918 ultimativ, mit den Ententemächten einen Waffenstillstand zu schließen. In der Heimat kam es nach 4 entbehrungsreichen Kriegsjahren zu Hungerrevolten. Als schließlich die deutsche Flotte am 29. Okt. 1918 den Befehl zum Auslaufen erhielt, um der Royal Navy eine letzte Verzweiflungsschlacht zu liefern (ehrenvoller Untergang), brach die Revolte unter den Marinesoldaten aus, die in die Revolution mündete. Der Zentrumspolitiker Erzberger unterzeichnete am 11. Nov.1918 für das Deutsche Reich den Waffenstillstand in Compiègne/Nordfrankreich. Der 1. Weltkrieg war zu Ende.

Sofort begann die Suche nach den Schuldigen für die Niederlage. Es kann hier nicht der Ort sein, die Entstehungsgeschichte der Dolchstoßlegende im einzelnen nachzuzeichnen, das ist andernorts ausführlich geschehen ( vgl. Boris Barth, Dolchstosslegenden und politische Desintegration: Das Trauma der deutschen Niederlage 1914-1933, Droste 2003, 625 Seiten).  Militär und den Rechtsparteien hatten Erfolg damit,  der Sozialdemokratie, dem katholischen Zentrum und den Linksliberalen, d.h. den Parteien der Friedensresolution vom Juli 1917 sowie der Heimatfront und der Revolution, die Schuld am Zusammenbruch und der militärischen Niederlage zuzuschieben. Hindenburg prägte am 18. November 1919 vor einem Untersuchungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung das Wort vom “Dolchstoß in den Rücken der im Felde unbesiegten deutschen Armee”.

Die Politiker und Parteien, die den Waffenstillstand politisch mitgetragen hatten, wurden in einer Umkehrung der tatsächlichen Vorgänge für die Niederlage verantwortlich gemacht und als “Novemberverbrecher” diffamiert. Erzberger und Rathenau fielen Attentaten zum Opfer, bevor sie sich entschieden dagegen zur Wehr setzen  konnten, andere  wehrten sich  vielleicht auch nicht entschieden genug (Friedrich Ebert). Der Dolchstoss setzte sich in der deutschen Rechten sämtlicher Couleur als unumstößliche Tatsache fest. Spätestens als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, schworen diese sich (und nicht nur die Nazis): einen zweiten Dolchstoß in den Rücken der deutschen Armee wird es nicht noch einmal geben.

Somit wird die Dolchstosslegende  zum Musterbeispiel einer Geschichtsperzeption, die zwar völlig falsch war aber dennoch wirkungsmächtig auf die handelnden Politiker, ihre Helfer und breite Kreise der Bevölkerung einwirkte. Die vermeintlichen Fehler  aus dem 1. Weltkrieg durften sich auf keinen Fall wiederholen. Waffenstillstand oder gar Kapitulation galt nach den - umgedeuteten - Erfahrungen vom Herbst 1918 als Novemberverbrechertum. Als das 3. Reich auf den nächsten Krieg zusteuerte und sich dann im 2. Weltkrieg befand, wurden alle vermeintlichen Fehlerquellen - Lehren aus dem 1. Weltkrieg - konsequent beseitigt.

Die Formierung einer politischen Opposition, wie sie sich im 1. Weltkrieg u.a. im Reichstag in der Friedensresolution vom Sommer 1917 artikulierte, war völlig ausgeschlossen. Potentielle politische Gegner aus Parteien, Gewerkschaften, Kirchen etc. saßen seit Jahren im KZ (Kurt Schumacher) oder befanden sich im Exil,  waren umgebracht oder auf andere Weise mundtot gemacht worden (Strafbataillone). Politischer Widerstand konnte nur heimlich und sporadisch und wenig effektiv organisiert werden (Kreisauer Kreis etc), entdeckter oder offener Widerstand wurde gnadenlos verfolgt (Weiße Rose, Stauffenberg).

Eine wirkungsvolle, umfassende Propaganda indoktrinierte die Bevölkerung und verhinderte das Aufkommen zahlenmäßig bedeutender abweichender oder defätistischer Meinungen oder gar das Entstehen oppositioneller Massenbewegungen. Die Versorgung der deutschen Bevölkerung mit Lebensmitteln war bis Kriegsende zwar nicht optimal aber weitgehend ausreichend. Hungerrevolten wie im 1. Weltkrieg hat es nicht gegeben. Die Versorgung brach erst nach der Besetzung des Reichsgebiets durch die Alliierten zusammen. Die Disziplin in der Wehrmacht wurde mit drakonischen Mitteln aufrecht erhalten, Desertionen unnachgiebig mit dem Tode bestraft. Zu Auflösungserscheinungen, wie in den letzten Monaten des 1. Weltkriegs, ist es in der Wehrmacht in vergleichbarem Umfang allenfalls unmittelbar vor Kriegsende  gekommen.

Das Ergebnis dieser Politik wird als bekannt vorausgesetzt. Falsche,  abwegige Geschichtsperzeptionen wurden Realität, weil  sie von Politikern und breiten Kreisen der Bevölkerung  als Tatsachen angesehen wurden, die ihr Handeln nachhaltig bestimmten. Mythen,  Legenden, Geschichtslügen werden geschichtsmächtig, wenn ihnen nicht von vornherein die Grundlagen entzogen werden. Kopfschütteln oder Nachsicht sind unangebracht.

II.   1945  - Befreiung ?

In der zu Recht berühmten Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 wird die deutsche Niederlage 1945 als Befreiung gedeutet: ”Der 8.Mai (1945) war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System des Nationalsozialismus”. Danach hat es eine bis heute nicht abgeschlossene Diskussion gegeben, ob diese Perzeption und Deutung des Kriegsendes zutreffend ist. In den veröffentlichten Medien: Zeitungen, Fernsehen, Rundfunk erfährt die Deutung als Befreiung mehr und mehr Unterstützung. Die Frage ist, ob hierbei nicht auch Opportunitätsdenken ein Motiv ist. Die Deutschen werden entlastet, auch sie waren letztlich “Opfer der Nazis”. Zumindest muss der Frage nachgegangen werden, ob hier nicht eine neue Legende geschaffen wird, die uns den Zugang zur historischen Realität versperrt. Auch sie könnte einmal in Form von falschem Politikerhandeln auf uns zurückschlagen.

Für diejenigen, die im KZ die Torturen und Todesselektionen überlebt hatten, als politische Gefangene in Zuchthäusern und Gefängnissen vegetierten, in Strafbataillonen dienen mussten, auf andere Weise verfolgt wurden oder als Zwangs- und Fremdarbeiter oder Kriegsgefangene in Deutschland festgehalten wurden,  war das Kriegsende die Befreiung - ohne jeden Zweifel. Für viele Namenlose und bekannte Persönlichkeiten, die den inneren Abstand zum Naziregime bewahrt hatten, war das Kriegsende schon zweischneidig. War man auf der einen Seite froh, dass die Naziherrschaft beendet wurde,  bereitete das Kriegsende, die Niederlage und bedingungslose Kapitulation Deutschlands Kummer und tiefe Trauer. Den Untergang Deutschlands wollten sie nicht, nicht so und auch nicht auf andere Weise. Mit Sorge blickten sie in die Zukunft, beobachteten  die Politik der Alliierten, die Besatzung und die sich abzeichnende Teilung Deutschlands. Sie engagierten sich früh und schnell, um die Folgen der totalen Niederlage abzumildern und soweit wie möglich zu revidieren.

Für die ganz große Masse der Zivilbevölkerung brachte das Kriegsende das Ende der kriegsbedingten Zerstörungen und Menschenverluste und damit gewiss ein Aufatmen. Das Kriegsgeschehen zog vorbei. Man war noch einmal davon gekommen. Zurück blieben die Trümmer und die Trauer um die Toten. Aber die Not war nicht zu Ende. In den großen städtischen Agglomerationen brach die Versorgung weitgehend zusammen. Die USA schickten sogar Hilfslieferungen an Lebensmitteln aus der Schweiz für die Hunderttausenden an deutschen Kriegsgefangenen in den Massenlagern am Rhein zurück. Noch vorhandene Industrieanlagen wurden zum Teil (systematisch) demontiert, Wälder abgeholzt, Personen verschleppt. Die konkrete Erfahrung der Masse der deutschen Bevölkerung widerspricht der These der Befreiung diametral. Das gilt für die Besatzungszonen.  Das gilt noch mehr für die ehemaligen deutschen Ostgebiete: Ostpreußen, Schlesien Pommern sowie Danzig. Die 12-15 Millionen Flüchtlinge, von denen (schätzungsweise) 1 - 1,5 Millionen auf der Flucht umkamen, haben das Kriegsende kaum als Befreiung erlebt. Ganz sicher nicht. Daran ändert sich auch nichts, wenn man ihnen erklärt, dass das Unheil mit dem deutschen Angriff auf Polen 1939 begonnen habe.

Wenig im öffentlichen Bewußtsein ist die lange militärische Agonie Deutschlands im letzten Kriegsjahr vom Sommer 1944 bis Mai 1945. Der Krieg war im Sommer 1944 nach der alliierten Landung in der Normandie und dem Durchbruch der Roten Armee im Mittelabschnitt der Ostfront definitiv und ohne jedes wenn und aber verloren. (Zu gewinnen war er schon ab Dezember 1941 nicht mehr, als die USA nach der  Kriegserklärung Hitlers aktiv in den Krieg eintraten und die Wehrmacht vor Moskau zum Stehen gekommen war, die Sowjetunion also nicht durch einen Blitzkrieg niedergeworfen werden konnte.) Trotz  alliierter Luftherrschaft ab 1944 und erdrückender militärischer Überlegenheit, dauerte es noch ein Jahr, bis das 3. Reich im Mai 1945 endgültig besiegt war. Anders als 1918, als das Militär bei klarer Erkenntnis der militärischen Niederlage einen Waffenstillstand einforderte und dann die Waffen streckte, wehrte sich das 3. Reich bis zum Schluss.

 Als Nachgeborener glaubt man kaum, dass die Rote Armee vom 16. April 1945, dem Beginn der letzten Offensive zur Eroberung Berlins bis zur Einnahme Berlins am 2. Mai 1945  304.000 Mann Verluste hatte. Zwischen Spreeknie, wo heute in Berlin das neue Kanzleramt und die Schweizer Botschaft stehen, und dem Reichstag,  fielen noch tausende Soldaten den Kämpfen zum Opfer. Die Rote Armee hatte auf dem Reichstag - von Stalin als Symbol des Sieges ausersehen - bereits die Rote Fahne gehisst, da wurde aus dem Keller des Reichstags noch fast einen Tag lang zurück geschossen (vgl. Antony Beevor, Berlin. The Downfall 1945, Penguin Books, 2002). Die Kämpfe an der Westfront, in den Ardennen, im Hürtgenwald bei Aachen,  im Elsass waren für die Allierten aufgrund ihrer erdrückenden materiellen Überlegenheit zwar nicht annähernd so verlustreich wie für die Rote Armee, aber der deutsche Widerstand verdarb ihnen doch gründlich das Konzept eines schnellen Vorstoßes.

Die hinhaltenden Abwehrkämpfe über ein ganzes Jahr, der Kampf bis zum Schluss, wirft trotz der gezogenen Lehren  aus dem angeblichen Dolchstoss 1918 Fragen auf. Der Kampf war objektiv aussichtslos. Nicht nur die Attentäter um Stauffenberg wussten das. Für den einzelnen Soldaten und Offizier waren mythologische Überhöhungen und Untergangsszenarien wie “Nibelungentod” oder “Götterdämmerung” sicherlich kein Grund zum Kämpfen und Sterben. Im Familienkreis des Autors (oral history) war die Forderung der Alliierten nach “bedingungsloser Kapitulation” , die Weigerung, sich einem fremden Willen, dem Willen der Alliierten  zu unterwerfen, der entscheidende Grund. Wie auch immer, es gibt m. E. noch Aufklärungs- und Erklärungsbedarf, warum im Deutschland des letzten Kriegsjahres in aussichtsloser Lage mit extrem hohen Verlusten weit über den Kreis von SS-Verbänden und eingeschworener Nazis (letztere drückten allerdings eher anderen die Waffe in die Hand) bis zum Schluss gekämpft wurde?

(Befragt werden könnten z.B. Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt, beides kluge und verantwortungsbewusste Leute. Sie sind meines Wissens bis Kriegsende nicht von der Fahne gegangen. Wie viele andere waren sie beide längere Zeit an der Ostfront eingesetzt und mussten von den dortigen Verbrechen der Wehrmacht und SS Kenntnis gehabt haben. Sie stehen stellvertretend für die vielen anderen.)

Von einer “Befreiung” kann in diesem Kontext überhaupt keine Rede sein. Die historische  Wahrheit sieht anders aus. Dieser Wahrheit müssen wir ins Auge sehen. Die “Befreiung” ist eine Geschichtslüge, deren Erfolg sich nur aus dem deutschen Bedürfnis nach Anerkennung durch die Sieger, als Demutsgeste und Reuezeugnis erklären läßt. Seht her!  40 Jahre nach Kriegsende (1985), haben wir die notwendige Reife erlangt, wir sehen es selbst ein. Ihr habt uns auf den guten, richtigen Weg zurückgeführt, wenn auch mit Gewalt. ( Die Siegermächte hörten das sicher gern und  die Befreiungsthese war 1989/1990 im Zuge der Wiedervereinigung durchaus von Nutzen. Dabei sollten wir es auch belassen.) Denn gesiegt hatten die Alliierten allemal, ihre Truppen standen im Land. Wenn sich Deutschland wieder aufrichten oder gar wiedervereinigen wollte, dann nur mit deren Einverständnis.  

Dass mit Begriffen Politik gemacht wird, ist nichts Neues. Man staunt allerdings über die Fähigkeiten der von Weizsäckers, Geschichte auf den Begriff zu bringen und zu deuten. Hatte doch der Vater Richards von Weizsäcker, Ernst von Weizsäcker, sein Mitwirken am Münchner Abkommen von 1938 als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes  als Akt des Widerstands dargestellt und umgedeutet. (Darauf muss man erst mal kommen!) Das 3. Reich war auch nicht “zusammengebrochen”, wie es vielfach bei Historikern, Publizisten etc. unscharf heißt. Der Begriff weckt Assoziationen von Selbstauflösung oder gar Zusammenfallen eines Kartenhauses. Genau das war es nicht. Tatsache ist, dass aus dem Keller des Reichstags noch viele Stunden zurück geschossen wurde nachdem die Sowjets schon auf dem Dach die Siegesfahne gehisst hatten. Das ist ebenso symbolträchtig wie das Hissen der roten Fahne auf dem Reichstag selbst.

1945  -  Stunde Null

Das Kriegsende 1945 markiert für die Deutschen einen Epochenbruch. Es gibt ein Vorher gleichbedeutend mit einem zweiten Dreißigjährigen Krieg (1914-1918 unterbrochen durch eine Art  Atempause/Waffenstillstand bis 1939-1945) und ein Nachher des  Wiederaufbaus, der Demokratie, des Friedens. Der Begriff der “Stunde Null” suggeriert einen Neubeginn, eine Art Wiederauferstehung in Unschuld. Was vorher war, war etwas ganz anderes. Aus Nazis wurden überzeugte Demokraten, aus Antisemiten Philosemiten, aus Militaristen Antimilitaristen etc, die jede Anspielung auf das Vorher entrüstet von sich wiesen.  Die Stunde Null wurde konstitutiv für das Staatsbewußtsein sowohl der Bundesrepublik als auch der DDR. Sie vertraten in ihrem Selbstverständnis jeweils das neue, das bessere Deutschland.

Im Ausland wurde das lange Jahrzehnte, ja z. T. sogar bis heute so nicht gesehen.  Mancher rieb sich da etwas ungläubig die Augen.  Wie auch immer die innere Verfassung Deutschlands sein mochte, hinsichtlich der Außenpolitik gab es einen Konsens in Europa und den USA: die Deutschen mussten für absehbare Zeit  an einer eigenen, unabhängigen Außenpolitik gehindert werden. Die deutsche Teilung infolge der unterschiedlichen Interessen der westlichen Besatzungsmächte und der Sowjetunion wurde diesbezüglich von vielen unserer Nachbarn als geradezu hilfreich angesehen. Der Kraftklotz in der Mitte Europas, für den  auf Grund seines ökonomischen und demografischen Gewichts  die Hegemonie in Europa nicht unmöglich schien, war gebändigt, der  Sprengsatz  in der Wahrnehmung der meisten Nachbarn entschärft. Mit der deutschen Teilung wurde im übrigen in etwa die Lage vor der deutschen Einheit 1870/1871 wiederhergestellt.

An die Stelle Preußens, bis 1871 Sprachrohr des russischen Zarenreiches in Mitteleuropa, trat die DDR. Die Bundesrepublik war - aus der Sicht mancher -  ein leider etwas (zu) groß geratener Rheinbund, aber immerhin fest an Frankreich angebunden. Die Briten waren einen Konkurrenten und Dauerstörer auf dem Kontinent los. Säkulare Interessen von Deutschlands Nachbarn hatten sich durchgesetzt. Für unsere Nachbarn war so gesehen das Jahr 1945 kein Bruch, keine Stunde Null. Es war im Gegenteil die Wiederherstellung, die Rückkehr zu jenem Zustand, wie er als Folge des ersten Dreißigjährigen Krieges 1618-1648 etabliert worden war: Deutschland zerstückelt, Einflußgebiet fremder Mächte, ( potentielles) Schlachtfeld. Wie man sich erinnert, waren nicht nur sowjetische atombestückte Raketen während des Kalten Krieges auf Deutschland gerichtet, sondern u. a. auch die Atomsprengköpfe der Force de Frappe.

Es ist viel geschrieben worden über die Kontinuitäten der Zeit vor 1945 in die Zeit danach, in die Bundesrepublik und die DDR. Wie könnte es auch anders sein? Überrascht stellt man aber immer wieder fest, dass auch 60 Jahre nach Kriegsende noch immer nicht alles aufgearbeitet ist. Dass der Bundesnachrichtendienst (BND) von der Abwehr Deutsche Heere Ost geschlossen erst in US-Obhut, dann in die Bundesrepublik überführt wurde und dort personell und auch sonst ein kaum durchschaubares Eigenleben führte, weiss man. Daß in Personalfragen ähnliches für Gestapo, Bundeskriminalamt und Bundesverfassungsschutz gelten soll, wie kürzlich bekannt wurde, verblüfft denn doch. Auch dass der personelle Wiederaufbau des Auswärtigen Amtes (AA) nach dem Krieg in den Händen bewährter Mitstreiter der Nazis lag, blieb lange Zeit im Halbdunkeln. Man darf gespannt sein, was die von Joschka Fischer eingesetzte unabhängige Historikerkommission zum AA herausfindet. (Vom Widerstandskampf  des AA-Staatssekretärs Ernst von Weizsäckers in München 1938 war bereits die Rede.)

Kontinuitäten gibt es aber auch im positiven Sinne. Demokratische Traditionen gab es in Deutschland spätestens seit der Revolution 1848, es gab seit 1871 einen frei, mit allgemeinem gleichen Wahlrecht gewählten Reichstag, es gab die - unglücklich gescheiterte - Weimarer Republik. Die Demokratie ist  den Deutschen kein von den Alliierten  aus heiterem Himmel dargebrachtes Geschenk, das dann wie durch ein Wunder reüssierte. Es gab wichtige Voraussetzungen, ohne die eine positive Entwicklung undenkbar gewesen wäre. (Insofern ist der Vergleich abwegig, den die Bush-Administration zwischen Deutschland nach 1945 und dem Irak nach 2003 zog; denn im Irak gab es diese Voraussetzungen nicht.) 

Auch die Parteien konnten z. T. auf Traditionen aufbauen. Insbesondere die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hat in ungebrochener personeller und organisatorischer Kontinuität seit der Zeit Bismarcks die Geschicke Deutschlands mitgestaltet, war im Bismarck-Reich für mehr Demokratie und die parlamentarische Kontrolle der Regierung eingetreten, hat die Weimarer Republik mitbegründet und als einzige Partei 1933 im Reichstag das Ermächtigungsgesetz Hitlers abgelehnt. Im Untergrund und aus dem Exil hat  sie Hitler bekämpft und als ersten Nachkriegsvorsitzenden Kurt Schumacher gewählt, den die Nazis ins Konzentrationslager gesperrt hatten.

Die CDU, die andere große Volkspartei  ist hingegen eine Gründung der Nachkriegszeit. Nachdem die bürgerlichen und Rechtsparteien am Ende der Weimarer Republik Hitlers Griff zur Macht zugelassen, um nicht zu sagen, den Weg bereitet haben, und dem Ermächtigungsgesetz Hitlers zugestimmt hatten, war ein umfassender Neubeginn nötig. Für die CDU als Sammlungspartei der politischen Rechten bedeutet 1945 in der Tat die Stunde Null. Wer den Begriff der Stunde Null auf die Bundesrepublik überträgt, setzt die Geschicke der CDU mit denen der Bundesrepublik quasi gleich, macht die CDU zur Staatspartei - was sie gerne hätte aber was sie ganz sicher nicht ist.  Eine CDU-Krise wäre keine Staatskrise. Die Frage  “cui bono?” (wem nützt es), ist wie immer  erhellend.

1989/1990  Deutsche Einheit - von Freunden umgeben

Es ist das unbestreitbare, große Verdienst Helmut Kohls, 1989/1990 das knappe Zeitfenster genutzt und entschlossen die deutsche Einheit wieder hergestellt zu haben. (Gleichzeitig lieferte Oskar Lafontaine eine unvergessene Probe seines schon damals   abwegigen Populismus.) Seit der Einheit 1990 gibt es einen Grundton, eine Grundzufriedenheit in der deutschen Politik, die lauten: Es ist vollbracht, wir haben die deutsche Einheit wieder, in Freiheit, ohne Krieg wie1870/1871, ohne Notwendigkeit, die Nachbarn zu nötigen oder nieder  ringen zu müssen, vielmehr im Konsens mit diesen. Wir sind ein demokratisches Land, sind im Westen angekommen, sind in der Europäischen Union eingebettet und von Freunden umgeben. Es ist so etwas wie das deutsche Gegenstück zu Francis Fukuyamas “Ende der Geschichte” (The End of History and the Last Man, London 1992). Nichts ist jedoch gefährlicher als  Selbstgefälligkeit und Selbstzufriedenheit, die dazu verleiten, Probleme und Bruchstellen zu übersehen, die schnell vieles in Frage stellen können. Eine Überprüfung der Selbstgewißheiten kann deshalb nicht schaden.

Die jüngsten Irritationen mit dem Polen der Zwillinge Kaczynski machen deutlich, wie unter einer lange Jahre friedlichen Oberfläche Konflikte schlummern und aufbrechen können, die tief in der Geschichte wurzeln. Offensichtlich wird diese Geschichte von den Brüdern Kaczynski anders perzipiert und andere Lehren daraus gezogen als von ihren Vorgängern - und hoffentlich Nachfolgern. Der Widerstand von Frau Thatcher gegen die deutsche Einheit ist bekannt und beruht ebenfalls auf einer Perzeption der Geschichte, die einen deutschen Einheitsstaat mit deutschem relativen Übergewicht in Europa mit deutschem Hegemoniestreben gleichsetzte. Die Europäische Union und die Schaffung der gemeinsamen Währung des Euro wird in London z. T.  immer noch als Realisierung deutscher Hegemonieträume verdächtigt. Dies umso mehr als das alte Spiel  nicht mehr greift, den Rivalen Frankreich gegen Deutschland auszuspielen. Wie man sich erinnert, hat sich Francois Mitterrand nur sehr zögerlich, mehr nolens als volens auf die deutsche Einheit eingelassen. Auch weiterhin bedarf das Verhältnis zu Frankreich ganz besonderer Pflege, es war und ist nie einfach. Auch die kleineren europäischen Nachbarn, wie z. B. die Niederlande haben die Wiedervereinigung mit gemischten Gefühlen verfolgt. Ohne die tatkräftige Mithilfe der USA und den Konsens der Sowjetunion/Russlands wäre die deutsche Einheit niemals geglückt.

Wie eruptiv und für jedermann sichtbar die alten nationalen Reflexe und Interessen in Europa durchschlagen können, war beim Zerfall Jugoslawiens Anfang der 90er Jahre zu beobachten. Frankreich, Großbritannien und Russland  standen auf Seiten Serbiens, Deutschland, Österreich auf Seiten der Kroaten, Bosnier und Slowenen. Die europäischen Führungsmächte konnten diesen Konflikt auf europäischem Boden wegen unterschiedlicher Interessen nicht lösen. Eine Konstellation wie vor dem 1. Weltkrieg! Verblüfft kann darüber nur sein, wer die europäische Geschichte und ihre Perzeption in den verschiedenen Staaten und Nationen nicht kennt. Erst das Eingreifen der USA gegen Serbien - dieses Mal auf Seiten Deutschlands (wenn man so will) - gab den Ausschlag. Es hat sich gezeigt, dass die USA - auch - eine europäische Schlüsselmacht sind. Gerne haben die Vereinigten Staaten im Balkan nicht interveniert. Es fragt sich, wie lange die USA den Europäern eine hilfreiche Hand leihen, wo sie selbst keine existentiellen Interessen haben wie u. a. auf dem Balkan.

Es liegt im Interesse einiger - nicht aller - europäischen Staaten, dass die USA eine europäische Macht bleiben. Sie sollen hier Aufgaben übernehmen, wie auf dem Balkan und in der KSZE, zwischen verschiedenen europäischen Mächten ausgleichen und Schutz gegenüber europäischen (Russland) und außereuropäischen  Mächten (Iran) bieten. Und eben auch ein potentielles Übergewicht Deutschlands oder Deutschlands gemeinsam mit Frankreich mittels der deutsch-französischen Zusammenarbeit durch ihre schlichte Präsenz ausbalancieren und vermeiden helfen. So hat die geplante US-Raketenabwehr in Polen und Tschechien  wenig mit dem Iran, viel mit Russland, und auch einiges mit Deutschland zu tun.

Wer über die Europäische Union und ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik spricht, muss dies im Auge haben. Wir sind in der EU noch nicht soweit, in den für die Nationen existentiellen Fragen einen Gleichklang der Interessen zu entwickeln. Das gilt nicht nur für Neumitglieder wie Polen, es gilt insbesondere auch für Großbritannien. So nimmt es nicht Wunder, dass im Europäischen Vertrag vom Juni 2007, der unter deutschem Rats-Vorsitz nach dem Scheitern der EU-Verfassung ausgehandelt wurde, im Hinblick auf die gemeinsame Außenpolitik nur geringe Fortschritte zu verzeichnen waren. Die Außenpolitik, ggf. die Entscheidung über Krieg und Frieden, gehört zum Kernbestand der Souveränität eines Staates. Darauf verzichten die Staaten - wenn überhaupt - ganz zum Schluss.

Das Vertrauen der Europäer in die gemeinsamen Institutionen,  in das Zusammenwachsen der Interessen nicht nur im ökonomischen und sozialen Bereich, in das Zusammenhalten und Zusammenwirken der Union auch in außenpolitischen Krisen muss erst wachsen und sich bewähren. Erst  dann können wir die alten Dämonen vergessen, die unseren Kontinent zerrissen haben. Die Balkankriege bei Auflösung Jugoslawiens, die Zerrissenheit Europas vor dem Irakkrieg 2003 machen deutlich, welchen Weg wir in der Europäischen Union noch vor uns haben. Im EU-Vertrag vom Juni 2007 sind im Bereich der Außenpolitik vergleichsweise geringe Fortschritte erzielt worden, aber Fortschritte wurden gemacht, wenn auch kleine. Wir sind auf dem richtigen Weg, im Ziel sind wir noch (lange) nicht.

Soviel zu den Freunden, die uns umgeben.

Auch in anderen Staaten und Nationen gibt es Legenden, Mythen, angebliche Wahrheiten und Erfahrungen, die aus der Geschichte abgeleitet werden, die aber nicht haltbar sind.  Das ist keine deutsche Besonderheit. Deutschland, das nach 1870/1871 mit der Einheit kein festes und bewährtes außenpolitisches Koordinatensystem hatte, in das es im Laufe der Jahrhunderte vergleichbar etwa mit Frankreich, England/Großbritannien oder  Russland hineingewachsen wäre, und das zweimal im 1. und 2. Weltkrieg  kolossal  scheiterte,  ist seit 1990 im neuerlichen Anlauf  darauf angewiesen, nüchtern und ohne Illusionen, Legenden oder Mythen, die in irrigen Erfahrungen der Geschichte wurzeln, seine nationalen Interessen klar zu bestimmen und in umsichtige, kluge Politik umzusetzen. Eine solche Politik setzt die Auflösung falscher Perzeptionen der Geschichte voraus.

Dr Guntram von Schenck, Dezember 2007

 


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