Deutschland im Spiegel
Guntram von Schenck, Oktober 2008
 
Deutschland im Spiegel der Nachwelt
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(Ein Rückblick aus dem Jahre 3000 n. Chr.) 

These:  Mit dem Höllenritt von Dez. 1941 bis Mai 1945 hat sich Deutschland  am Ende der zwei Weltkriege für immer ins Gedächtnis der Menschheit eingebrannt.

An was wird oder könnte sich erinnern, wer als Bürger dieser Erde mit großem zeitlichen Abstand an Deutschland denkt? Was fällt ihm dazu ein - wenn überhaupt etwas? Es ist die Frage nach dem was bleiben könnte.

Wir springen 1000 Jahre in die Zukunft und nehmen einen fiktiven Zeitpunkt an, um von dort einen Blick zurück auf die deutsche Nationalgeschichte zu werfen. Werden wir in der Rückschau insbesondere auf die zwei Weltkriege nur Misere, Unglück, Verbrechen sehen und erinnern? Also im Grunde eine Wahrnehmung haben, die im Wesentlichen unserer heutigen zu Beginn des 21. Jahrhunderts entspricht? Oder könnte es vielleicht noch eine andere Geschichte geben, die wir in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Zerknirschung der Niederlage nicht oder noch nicht sehen können, die verdrängt worden ist, die noch verborgen ist, aber mit dem zeitlichen Abstand hervortritt oder hervortreten kann? Wird dieser “fiktive” Rückblick tröstlich sein oder nur das bestätigen, was heute ohnehin vorherrschende Meinung ist?

Nehmen wir an, dass die Menschheitsgeschichte die nächsten 1000 Jahre so verläuft, dass Erinnerung wach gehalten wird und möglich bleibt. Was könnte in der ferneren Zukunft die Menschen in Staunen versetzen?  Was werden sie im Gedächtnis bewahren, sei es bewundernd, sei es als Negativbeispiel? Was mag den Pyramiden Ägyptens gleichkommen, der Demokratie Athens im 5. Jahrhundert v. Chr., der imperialen Macht des antiken Roms? Oder - um den Eurozentrismus zu verlassen - den Kriegszügen des Mongolen Dschingis Khan, der Ausbreitung des Islam in wenigen Dezennien nach dem Tode Mohammeds, der unvergleichlichen Dauerhaftigkeit und Integrationskraft Chinas über mehrere Jahrtausende? Was könnte der “stupor mundi” sein, der die Menschen der Zukunft in seinen Bann schlägt? Was wird Bestandteil dessen, das die Menschheit nie vergisst?

Auch bei entschiedener Ablehnung des Eurozentrismus und seiner Geschichtsinterpretationen wird die Menschheit der späteren Zukunft nicht umhin können, das Aufblühen Europas in der Renaissance, Europas Dominanz in der Kriegskunst bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, die Entwicklung der Wissenschaften seit der Aufklärung, die europäischen Siedlungsbewegungen fast über den ganzen Erdball durch Portugal, Spanien, Holland, England und Russland und schließlich Europas globale imperiale Stellung im 19. Jahrhundert zu studieren und anzuerkennen. Es erscheint schlicht unumgänglich, dass dies immer Teil menschlicher historischer Selbstvergewisserung bleiben wird und muss.

Diese Dynamik ging von einigen wenigen Nationen am westlichen Ausläufer des asiatischen Kontinents aus. Es entstand etwas völlig Neues, das am Ende mit Ablegern, insbesondere den USA, die ganze Welt durchdrang und den Erdball erstmals “globalisierte“. Es war ein Quantensprung, an dem die einzelnen Nationen ihren jeweiligen und unterschiedlichen Anteil hatten. Wie man im antiken Griechenland das dem Neuen stets aufgeschlossene, dynamische Athen mit den Begriffen Demokratie, das konservative Sparta mit überlegener militärischer Disziplin verbindet, wird man wahrscheinlich die einzelnen Nationen Europas mit bestimmten Vorstellungen assoziieren, so verkürzt sie auch immer sein mögen: Spanien  mit der Entdeckung und Eroberung Lateinamerikas, Frankreich mit der Großen Revolution 1789, England/Großbritannien mit der Industrialisierung und dem Empire usw.


Deutschlands Platz in der Geschichte?


Wird Deutschland in einer solchen Rückschau überhaupt vorkommen? Uns fehlt im Vergleich mit anderen europäischen Nationen doch einiges. Der deutsche Nationalstaat im eigentlichen Sinne ist im Vergleich zu Frankreich, Russland, England/Großbritannien, Spanien mit seiner Gründung 1871 verhältnismäßig  jung, die Nationalgeschichte vergleichsweise kurz. Wir werden keine deutschsprachigen Kolonien in der Welt hinterlassen, die das Andenken an das Mutterland pflegen könnten. Wer wird deutsche Philosophie, der wohl markanteste deutsche Beitrag  zur europäischen Geistesgeschichte, überhaupt noch lesen oder gar verstehen? Wer wird von Hegel, Marx oder Heidegger mehr als vielleicht die Namen kennen? Deutsche Wissenschaftler haben großartige Beiträge geleistet, französische, britische, russische aber nicht minder. Nichts Auffälliges also. Vielleicht wird die klassische deutsche Musik weiter leben - vielleicht. Werden die Deutschen - um einen Vergleich mit dem antiken Griechenland zu ziehen - dem stummen Theben gleichen, das zwar den großen Dichter Pindar (522/518 - 445 v. Chr.) hervorgebracht hat, aber ansonsten farblos geblieben ist und vergessen wurde?

Europas Weltgeltung wurde im 1. Weltkrieg untergraben und im 2. Weltkrieg endgültig zerstört. Wer also nach Jahrhunderten die Ursachen des Niedergangs Europas erforscht und zu erklären sucht, wird unweigerlich auf den Namen Deutschlands stoßen. Die Selbstzerstörung Europas ist aufs engste mit dem 1871 gegründeten Deutschen Reich verbunden. Das Interesse an deutscher Geschichte wird sich im großen zeitlichen Abstand mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf die Epoche der zwei Weltkriege richten. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation, die Reformation Luthers, die preußische Geschichte werden vermutlich wenig bis keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber der Kampf der Deutschen einschließlich der Österreicher gegen praktisch alle anderen Großmächte Europas und die USA wird die Nachwelt interessieren, eben weil er das Ende der Weltstellung Europas zur Folge hatte. Denn nahezu zeitgleich mit der Niederlage Deutschlands brach auch das britische Empire, das französische Kolonialreich und  nur wenig später 1989 mit der Auflösung der Bindekraft der - deutschen - Ideologie des Marxismus auch das russische Sowjetimperium zusammen.

Insofern können wir sicher sein, dass der deutsche Name in der Weltgeschichte überleben wird. Können wir also beruhigt zurücklehnen und abwarten, was die Meinungsbildung der ferneren Zukunft so bringen möge? In gewisser Weise bleibt uns gar nichts anderes übrig. Wir wissen nicht, was diese Zukunft beinhaltet, sie ist offen. Gleichwohl ist es immer ratsam, an der Meinungsbildung über die eigene Identität mitzuwirken und die Konsensfindung nicht nur Dritten zu überlassen. Dies umso mehr als die Sieger in der Regel die Geschichte schreiben und in ihrem Sinne deuten. Sie definieren, was Recht, Unrecht , Schuld etc ist oder zu sein hat. Wir Deutsche sind in der - glücklichen - Lage, auch als Besiegte noch unsere Stimme erheben und uns Gehör verschaffen zu können. Wir sollten es zumindest versuchen.

 Historische Deutung der zwei Weltkriege durch Sieger und Besiegte

Die Sieger der 2 Weltkriege haben ihre Sicht der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mannigfach dargestellt und verbreitet. Knapp zusammengefasst trägt danach das Deutsche Reich unter Kaiser Wilhelm II  die Schuld am Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914 (Kriegsschuldartikel des Vertrags von Versailles 1919), weil es nach einem Weltreich strebte. Es hat die Kriegsverbrecher, insbes. Kaiser Wilhelm II, seinerzeit weder ausgeliefert noch vor Gericht gestellt. Die deutschen Revanchisten fanden in Hitler den Frontmann für eine neuerliche Konzentration der Kräfte in einer Diktatur und für die Wiederaufnahme des Krieges um die Weltherrschaft. Sie stürzten Europa und die Welt in einen verbrecherischen Krieg, der letztlich 50-60 Millionen Menschen, unter ihnen 6 Millionen ermordete Juden das Leben kostete.

Diesen Menschheitsfeind galt es - so die Sieger - mit allen Mitteln bis zur bedingungslosen Kapitulation nieder zu ringen. Das ganze Land wurde besetzt und um rund ein  Viertel  seines Territoriums amputiert. Die Kriegsverbrecher wurden von den Alliierten nach 1945 in Nürnberg vor Gericht gestellt und großenteils hingerichtet. Es war aus der Sicht der Sieger mehr als vollauf gerechtfertigt, diesen Feind, das “Böse” schlechthin, nicht nur militärisch sondern auch moralisch zu vernichten. Vielfach wurde die folgende deutsche Teilung als eine gerechte Strafe gesehen. Etwa so lautet schlagwortartig der von den Alliierten in der internationalen Gemeinschaft herbeigeführte Konsens über das Deutschland des 20. Jahrhunderts.

Die deutsche Geschichtsschreibung und insbesondere die maßgebende deutsche Publizistik haben  nach 1945 die Deutung  der Sieger der 2. Weltkriege überwiegend übernommen. Entsprechend wird geforscht und publiziert. Die Ergebnisse dieser Forschung liegen jetzt zahlreich vor, sie sind zweifellos wichtig. Wir wissen, dass die Wehrmacht vor allem im Osten schwere Kriegsverbrechen begangen hat und dass dem Holocaust 6 Millionen der Juden Europas zum Opfer gefallen sind. Nahezu  alles ist publiziert und der Öffentlichkeit zugänglich. Nichts soll verschweigen werden.

Selbsterkenntnis ist gut, Übertreibungen weniger. Heute scheint indes fraglich, ob die Aufdeckung noch einer Untat der Wehrmacht und weiterer Einzelheiten des Holocaust unsere Erkenntnisse entscheidend erweitern und zur Selbstläuterung oder zur sog. Bewältigung der Vergangenheit beitragen können. Die moralische Selbstläuterung durch ein Mehr an Wissen stößt an Grenzen. Manchmal kommt man um die Frage nicht umhin, ob sich die Deutschen nicht nach 1945 in der Zerknirschung und Selbstkasteiung von Besiegten mit der Obsession von Flagellanten die Schuldzuweisungen der Sieger zu eigen gemacht haben, ja diese zu übertreffen versuchen?

 Was ist überhaupt Geschichte?

Aber die Geschichte ist keine moralische Veranstaltung. Ganz einfach ausgedrückt, werden nicht immer die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Mitunter ist es umgekehrt. Waren denn die Germanen die Guten, weil sie die Römer der Antike besiegten? Oder ist der Islam die bessere Religion, weil die Araber das früher christliche östliche Mittelmeer und Nordafrika eroberten und zum Islam bekehrten? Waren die Kommunisten Stalins tatsächlich besser als die Nazis,  weil sie gesiegt haben?  Waren die Falangisten im spanischen Bürgerkrieg die Guten, weil General Franco mit der Unterstützung Hitlers und Mussolinis die Republikaner besiegte? Waren die Maoisten die Guten und Tschiang Kai Tschek und seine Anhänger die Schlechten, weil Mao letztere aus China vertrieb?  Hegels “siegreicher Weltgeist”,  die “List der Vernunft”, die ordnende Hand, die alles letztlich zum Guten lenkt, gibt es nicht.  Das gilt auch für alle Theorien, die an Hegel anknüpfen, bis hin zu Karl Marx. Geschichte ist - leider nicht (oder noch nicht?) - die Geschichte der Entfaltung von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten.

Moderne Geschichtstheorien (Hans-Georg Gadamer, Hayden White, Michel Foucault u. a.) stellen ohnehin die Geschichte als Gegenstand der Wissenschaft in Frage. Danach  können wir heute die Vergangenheit nicht kennen sowenig wie spätere Generationen unsere Geschichte zu verstehen vermögen. Geschichtsschreibung ist Hayden White und Claude Lévi-Strauss zufolge nur “eine neue Form von Mythologie (und) nicht der Gegensatz von Mythos”. Lévi-Strauss formuliert: ”Ich neige zu der Ansicht, dass in unseren Gesellschaften die Geschichte die Mythologie abgelöst hat und deren Funktionen erfüllt…”(C. Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung, Frankfurt/M 1995, S.64). Hayden White geht noch weiter und behauptet, was Historiker betrieben, sei Literatur, und - so kann man hinzufügen - Literatur, die den Romanen von Schriftstellern unterlegen ist (Metahistory, Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M 1991, S.563).


Wir können hier die modernen Geschichtstheorien nicht in extenso ausbreiten, so interessant und aufschlussreich das wäre. Bezeichnend ist jedoch die wiederkehrende Kritik, dass Geschichtswerke nicht mehr als eine Reihe “fortgesetzter Metaphern” sind, die Ereignisse interpretieren. Historiker interpretieren Ereignisfolgen, die von anderen Historikern bereits interpretiert wurden. Die Ereignisse bleiben dieselben, aber die Geschichte wird eine andere, in die diese Ereignisse eingeordnet werden. “Wir sind frei, die `Geschichte´ so zu verstehen, wie es uns gefällt, so wie wir frei sind, mit ihr zu tun, was wir wollen” (Hayden White, ebda.).


Soviel postmoderne Beliebigkeit wollen wir denn doch nicht an die deutsche Geschichte anlegen und die Überprüfbarkeit und Plausibilität von Zusammenhängen durch Historiker hochhalten und verteidigen. Festzuhalten bleibt freilich, dass Geschichte kein ein für allemal feststehender, sakrosankter Kanon unverrückbarer Wahrheiten ist. Künftige Generationen werden mit Sicherheit anders urteilen als wir, andere Metaphern abrufen und in einen anderen, aus ihrer Zeit heraus plausiblen Interpretationszusammenhang einfügen.

   Demokratie, Menschenrechte, Freiheit

Die unzureichende Demokratisierung des Bismarck-Reichs und die Abkehr Deutschlands von der Demokratie 1933  werden als ein wesentlicher Grund für die deutsche Katastrophe in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen. Die Rückkehr in den Schoß der Nationen als Demokratie gilt uns Heutigen als absoluter Wert, an dem der deutsche Sündenfall vor 1945 gemessen wird. Die Frage ist, ob das im längeren zeitlichen Abstand noch so sein wird? Zunächst ist festzuhalten, dass es keinen deutschen Demokratie-Rückstand im Kaiserreich im Vergleich zu Gesamteuropa, also einen sogenannten “deutschen Sonderweg” gegeben hat; man denke etwa an das russische Zarenreich, aber auch Italien etc. Das deutsche Kaiserreich hatte z. B. vor Großbritannien das allgemeine, gleiche Wahlrecht eingeführt. Es gab vor 1914 vielleicht einen Trend, aber keinen europäischen demokratischen Gleichklang, aus dem Deutschland ausgeschert wäre. Ähnliches gilt für 1933: in Moskau regierten Stalin und die Kommunisten, Italien war bereits eine faschistische Diktatur, in den Staaten Mittel- und Osteuropas herrschten von wenigen Ausnahmen abgesehen alles andere als demokratische Verhältnisse.

Die entscheidende Frage ist das aber nicht. Die Frage ist vielmehr, welchen Wert an sich Demokratie in einigen Jahrhunderten haben wird. Ein Blick in die “bekannte” Geschichte lehrt, dass wir uns keineswegs allzu grossem Optimismus hingeben dürfen. Bezogen auf die menschliche Gesamtgeschichte waren die demokratischen Phasen  immer nur sehr kurz und geographisch eng begrenzt. So das antike Athen im 5. Jahrhundert v. Chr., die römische Republik der Antike bis Cäsar, wenn man sie denn überhaupt als Demokratie ansehen will, und einige europäische Staaten ab dem 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert mit einem auf den “Westen” beschränkten Siegeszug der Demokratie nach dem 2. Weltkrieg. (Aber schon ziehen Anfang des 21. Jahrhunderts wieder dunkle Wolken auf, wenn man an China oder Russland denkt.) Die Demokratie bedeutet nicht das “Ende der  Geschichte”, um einen Begriff von Francis Fukuyama zu gebrauchen (The End of History and the last Man, 1993). Die Geschichte geht weiter. Innere und äußere Entwicklungen werden die Demokratie verändern und aushöhlen, wie einst die Römische Republik, die nach Cäsar nur dem Namen nach noch bestand. Die Demokratie in den USA von heute hat im übrigen mit der Demokratie der Schweizer Urkantone im 14./15. Jahrhundert nichts gemein. Traditionslinien sind oft konstruiert und fragwürdig.

Wenn die Demokratie von allen - schlechten - Verfassungen noch immer die beste ist, so hat es sie immer nur in wenigen glücklichen Phasen der Menschheitsgeschichte und nur auf engem Raum gegeben. Es sind Momente der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Blüte und Expansion, die einer begrenzten Zahl von Menschheitsbürgern Wohlergehen, Selbstbestimmung und Teilhabe am politischen Prozess ermöglichten. Oft auf Kosten Dritter: die Bürger Athens ließen Sklaven für sich arbeiten, die Römische Republik beutete die meisten Völker des Mittelmeerraumes aus und auch die Gesellschaften des freien Westens verhalten sich nach Meinung vieler bis heute ausbeuterisch gegenüber der sog. Dritten Welt. Wo das Wohlergehen durch wirtschaftliche Schwierigkeiten und äussere Bedrohungen gefährdet wird, setzen erst unmerklich, dann unübersehbar Veränderungsprozesse ein, selbst wenn die Fassade eine Zeitlang noch weiter bestehen bleibt. Werte wie Freiheit, Selbstbestimmung und Mitbestimmung als Teilhabe am politischen Leben werden ihre Bedeutung verändern. Man muss kein notorischer Pessimist sein, um eine solche Entwicklung auch für unsere Gesellschaften voraus zu sehen. Die Jahrhunderte schleifen alles ab und formen alles um.

Wenn dem so ist, kann man davon ausgehen, dass der Verlauf der deutschen Geschichte in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts in 500, 1000 oder mehr Jahren nicht am Versagen an der Demokratie gemessen werden wird. Das Urteil wird sich an anderen Kriterien, die Erinnerung an anderen Dingen festmachen. Das mag man aus heutiger Sicht entschieden ablehnen oder  zumindest bedauern. Dennoch müssen sich die Deutschen von heute mit dem Gedanken vertraut machen, dass die Demokratie, die sie gewissermaßen als Lehre aus der Geschichte als Wert schlechthin verinnerlicht haben, keinen Ewigkeitswert hat. Sie ist vor der Geschichte sogar ein höchst vergängliches Gut, dem nur unter besonders günstigen Umständen eine gewisse Lebensdauer gegeben ist, gewissermaßen eine Verfassung für Schönwetterperioden. (Das sollte uns heute freilich nicht hindern, dieses Gut so lange und so entschlossen wie möglich zu verteidigen und hochzuhalten.) Demokratische Zeiten sind die kostbaren Momente der Menschheit, in ein paar hundert Jahren vielleicht so etwas wie das verlorene Paradies.

Kriegsschuld, Angriffskrieg, Kriegsverbrechen

Die Alleinschuld am Ausbruch des 1. Weltkriegs wurde von den Siegermächten Deutschland angelastet. Die deutsche Geschichtsforschung und Publizistik hat dies bis Anfang 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehrheitlich zurückgewiesen. Mit Fritz Fischers Werk “Der Griff nach der Weltmacht” (1961) fand in den 60er Jahren eine Umkehrung statt. Mittlerweile wird Fischer  in der deutschen Forschung überwiegend wieder revidiert und lediglich eine deutsche Mitverantwortung angenommen. In den maßgebenden deutschen Medien ist letzteres meist noch nicht angekommen und es wird für das große Publikum gedankenlos von deutschen Angriffskriegen 1914 und 1939 berichtet. Das ist falsch, aber relativ belanglos.

Das Deutsche Reich war vor 1914 ohne Zweifel eine aufstrebende Macht, die das europäische Gleichgewicht ökonomisch und demographisch in Frage stellte. Etablierte Mächte wie Großbritannien und das zaristische Russland, die ihre Weltreiche in zahllosen Kriegen schon zusammengerafft und erobert hatten: die Briten das Empire rund um den Globus, die Russen ein gigantisches Territorium von Warschau bis Wladiwostok, von Helsinki bis Tiflis, fühlten sich herausgefordert. Ähnliches gilt für Frankreich, das nach Afrika und Indochina ausgegriffen hatte, sich aber mit dem Verlust Elsass-Lothringens nicht abfinden wollte. Das Deutsche Reich entwickelte Anfang des 20. Jahrhunderts eine derartige Potenz, dass das übrige Europa mit vereinten Kräften diese neue Macht im Herzen des Kontinents im 1. Weltkrieg nicht niederzwingen konnte. Es bedurfte des Eingreifens der außereuropäischen Macht der USA, um Deutschland 1918 zu besiegen.

Schon aus heutiger Sicht war die deutsche Politik unter Wilhelm II nicht imperialistischer als die britische, russische oder französische und auch die der USA. Hohles Pathos und große Töne haben - salopp ausgedrückt - in dieser Zeit außer Wilhelm II auch andere europäische Politiker und Staatsmänner geschätzt  (z.. B.  Benjamin Disraeli,  britischer Politiker und Staatsmann). Die europäischen Staaten und die USA expandierten in die Welt und gerieten untereinander in Streit um Teile des Kuchens. Die etablierten Mächte schlossen sich zusammen, um den deutschen Neuankömmling nicht hoch kommen zu lassen, denn sie hatten etwas zu verteidigen und zu verlieren. Insbesondere die britische Propaganda denunzierte das Deutsche Reich als imperialistisch und süchtig nach Weltherrschaft. Denn das weltumspannende "Imperium" beanspruchten die Briten nicht nur selbst, sie hatten es  in ihrem Selbstverständnis mit ihrem Empire auch inne. (Ein ähnliches Selbstverständnis haben  die "Masters of the Universe",  die" Herren der Welt",  des Finanzdistrikts der Londoner City  Anfang des 21. Jahrhunderts entwickelt. Gemeinsam mit der New Yorker Wall Street haben sie in der Folge die Welt in die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit 1929 gestürzt.) London wollte vor 1914 das ungeschmälerte Empire nicht nur um jeden Preis behalten sondern nach Möglichkeit noch ausbauen. Es war schlicht der Kampf von Rivalen.

Mit der Niederlage 1918 und den Vertragsbedingungen von Versailles 1919 waren bereits alle Würfel gegen Deutschland gefallen. Die Entente-Mächte taten alles, damit Deutschland niemals zu gleicher politisch-historischer Größe wie Großbritannien oder Frankreich würde aufsteigen können. Am liebsten hätten sie schon damals das Deutsche Reich, das ja erst knapp 50 Jahre bestand, wieder zerschlagen. Deutschland war als Nation, um ein Bild zu gebrauchen, gewissermaßen im Jünglingsalter gestoppt worden. Etwaige Entfaltungsmöglichkeiten wurden abgewürgt. (Von den Entente-Mächten war das auch so gemeint und ist in Deutschland  so angekommen.) Was dann nach 1918/1919 aus Deutschland kam, war ein Aufbegehren, die kleinbürgerliche Radikalisierung der Nazis, die alles nochmals mit unzulänglichen geistig-politischen  und materiellen Mitteln auf eine Karte setzten und verloren. Das Bürgertum zog weitgehend mit, weil es den Nazis gelang, seine nationalen Ambitionen und Frustrationen zu bedienen. Der bürgerliche Ehrgeiz war noch da, auch wenn ihm die politischen Grundlagen und die Erfahrung fehlten. Gläubigkeit und/oder Treue ersetzen nun mal nicht den politischen Verstand. Am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg.

Der Hitler-Stalin-Pakt vom 24. August 1939 wird von den betroffenen Nationen in Mittelosteuropa vielfach als der eigentliche Kriegsbeginn gesehen - zu Recht. Der Beginn der Kriegshandlungen wenige Tage später und die vorangegangenen beidseitigen deutsch-polnischen Provokationen sind Folge dieses Paktes. Die britische Politik hat zur unflexiblen polnischen Haltung und damit zum Kriegsausbruch auch einiges beigetragen. Wenn dem so ist, muss zumindest der Sowjetunion Stalins eine “Mitschuld” am Ausbruch des 2. Weltkriegs zugemessen werden. Schließlich hat sich Stalin mit der Besetzung des Baltikums und Ostpolens kurz danach zielstrebig und vertragsgemäß an der Aufteilung der Kriegsbeute beteiligt. Die Ausdehnung des Krieges auf immer neue Kriegsschauplätze von Norwegen über Griechenland bis Nordafrika war ganz im Sinne Churchills, der sich davon eine Verzettelung und Schwächung der Wehrmacht versprach - die dann auch eintrat. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941 erklärt sich zum Teil aus dieser Kriegslogik und Kriegsdynamik, der schon Napoleon 1813 erlegen war. Auch wenn Napoleons Außenminister Talleyrand den Satz auf etwas anderes gemünzt hatte, wäre man versucht mit ihm  zu sagen: “C´ était pire qu´un crime, c´était une faute” (schlimmer als ein Verbrechen - ein Fehler).

Ab Dezember 1941 hatte Hitler mit dem Scheitern der Wehrmacht vor Moskau und dem Eintritt der USA in den Krieg das Vabanquespiel des Alles oder Nichts endgültig verloren. Danach kam bis 1945 etwas anderes, ich komme darauf zurück. Zwar war Frankreich 1940 besiegt worden, Großbritannien kämpfte danach mit Churchill weiter, um das Empire zu sichern. In seiner berühmten Antrittsrede vom 13. Mai 1940 “Blut, Schweiß und Tränen” hatte er bereits implizit die “bedingungslose Kapitulation” Deutschlands gefordert, die er im Januar 1943 in Casablanca als Forderung der offiziellen Politik der Alliierten durchsetzte. Churchill wollte von Anfang an Deutschland als Rivalen, diese Gefahr für das Empire, wie er es sah, ausschalten. Die Weltgeltung Britanniens, die historische Mission Londons und der “angelsächsischen Völker” in der Welt galt es für Churchill mit allen Mitteln zu bewahren. Rivalen - oder die man als solche wahrnahm -  mussten niedergerungen werden. Das war nicht neu und war schon britische Politik gegenüber Frankreich unter Ludwig XIV im 17. und Napoleons I im 18. /19. Jahrhundert gewesen. Grundgedanke dieser Politik war die  “balance of power”, das Gleichgewicht der europäischen Mächte, die London eine Schiedsrichterrolle in Europa und freie Hand auf den Weltmeeren gab.

Die Nachwelt wird sich in einigen Jahrhunderten kaum mit diesen Kriegschuldfragen aufhalten. (Vielleicht ordnet man in diesen zeitlichen Zusammenhang auch die sog. Bush-Doktrin ein, die einen Präventiv-Krieg rechtfertigt, um eine Bedrohung von den USA abzuwenden; zur Anwendung kam die Doktrin z. B. im Irak-Krieg 2003, eine Bedrohung bestand objektiv nicht, sie war konstruiert.) Schließlich weiß man seit dem Trojanischen Krieg, dass der Raub der Helena zwar den offiziellen Kriegsgrund abgab, dahinter aber andere Interessen standen, die zu dem von Homer besungenen 10-jährigen Krieg um die Vorherrschaft am Bosporus führten. Deutsche Politik mag zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht immer geschickt agiert haben. Das Kernproblem war aber das Auftreten und Aufstreben einer neuen Macht in der Mitte Europas, die das europäische Gleichgewicht störte. Es gelang den europäischen Mächten nicht, aus dieser heiklen Situation auf friedlichem Wege eine neue Balance zu finden. So wurde der Konflikt auf traditionelle Weise mit den Waffen ausgetragen. Die verheerenden materiellen und moralischen Schäden und Folgen hatte niemand voraus gesehen. (Anfang des 21. Jahrhunderts wird versucht, daraus Lehren u. a. für den Umgang mit dem aufstrebenden China zu ziehen - hoffentlich mit Erfolg.)

Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse krankten von vornherein schon daran, dass Stalins Schergen mit zu Gericht saßen. Die Sieger haben 1945 in Nürnberg den Angriffskrieg und seine Vorbereitung  zu einem neuen Straftatbestand erklärt. Bis dahin galt der Satz: “nulla poene sine lege”, d. h. die rückwirkende Strafbarkeit war ausgeschlossen. Die höchsten Funktionäre des Nazi-Regimes wurden vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg verurteilt, die meisten zum Tode. Auf eine allgemein akzeptierte Definition des Angriffkriegs  konnte sich die internationale Gemeinschaft freilich bis heute , d. h. 60 Jahre nach Nürnberg nicht einigen. Das Massaker an Zivilisten durch Bodentruppen ist ohne jede Frage ein Kriegsverbrechen. Deutsche Kriegsverbrechen wie u. a. Oradour in Frankreich, Lidice in der  damaligen Tschechoslowakei, in Polen und Russland wurden angeklagt und bestraft. Derartige Verbrechen sind unter allen Umständen unnachsichtig zu verfolgen und zu sühnen. Massaker aus der Luft, wenn bei Luftangriffen Hunderte, Tausende, ja Zehntausende Zivilisten, Frauen, Kinder, alte Männer, umgebracht werden, wie in Hamburg 1943, Dresden 1945, Hiroshima und Nagasaki 1945, aber ebenso - wenn auch in erheblich kleinerer Größenordnung - in Coventry, Rotterdam und Warschau, blieben in Nürnberg ungeahndet. Aber Massaker bleibt Massaker, insbesondere bei Flächenbombardements auf urbane Zentren. Anklagepunkt waren in Nürnberg auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Vertreibung von rd. 14 Millionen Deutschen aus den Ostgebieten, in deren Verlauf 1,5 - 2 Millionen umkamen, war ohne jeden Zweifel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, fiel allerdings in den Augen der Sieger nicht unter diesen Tatbestand. (Notabene: die Nazigrößen mussten nach 1945 natürlich in irgendeiner Form zur Rechenschaft gezogen und bestraft werden. Unmittelbar nach Kriegsende war der Nürnberger Prozeß eine "pragmatische Lösung": rechtliche Probleme, wie Rückwirkungsverbot, Gleichbehandlungsgrundsatz und der Ruch von Siegerjustiz wurden in Kauf genommen, um eine absolut gerechtfertigte Bestrafung indidueller Schuld zu begründen.) Der Holocaust spielte in Nürnberg eine eher nebensächliche Rolle, ich komme auf den Holocaust zurück.

Die USA sind bis heute der Charta zur Errichtung des UN-Strafgerichtshofs in Den Haag nicht beigetreten. Sie drohen unverhüllt damit, US-Bürger, sollten sie vor das Tribunal gestellt werden, mit Gewalt zu befreien. In diesem Zusammenhang wird von US-Seite betont, dass Nürnberg eben keinen Präzedenzfall geschaffen habe. Freimütig wird nebenbei anerkannt, das es sich lediglich um einen Akt der Zivilisierung von Siegerjustiz gehandelt habe (z. B. George F. Will, The International Criminal Court. A Court that is hostile to tue rule of law, in: International Herald Tribune v. 12.07.2002). So besehen wird von den Nürnberger Prozessen keine Orientierung ausgehen, sie sind kein Merkposten für die Nachwelt.

    Kriegsverlauf und Judenmord

Im Dezember 1941 blieb die Wehrmacht vor Moskau stecken, die Sowjetunion konnte nicht überrannt und besiegt werden. Am 11. Dezember 1941 erklärte Hitler den USA den Krieg, die USA hatten schon zuvor Großbritannien und auch die Sowjetunion tatkräftig unterstützt. Ab Dezember 1941 konnte der Krieg von Deutschland objektiv nicht mehr gewonnen werden. Ein Sieg gleichzeitig gegen die USA, die Sowjetunion und Großbritannien mit ihren Verbündeten war schlicht unmöglich. Im gleichen Dezember 1941 fiel auch die Entscheidung zur koordinierten, systematischen Ermordung der Juden im Machtbereich des 3. Reiches, die dann auf der Wannsee-Konferenz im Januar 1942 administrativ umgesetzt wurde ( dazu u. a. Saul Friedländer, einer der weltweit renommiertesten Holocaust Forscher, Interview in: Der Spiegel, 41/2007, S. 214).

Ende 1941 hatte sich der Krieg schon über 2 Jahre hingezogen; die Juden waren seit 1933 ausgegrenzt, drangsaliert und verfolgt worden. Der Krieg und die Judenverfolgung bekommen mit dem Dezember 1941 aber eine neue, fatale Dimension. Die Vernichtung der Juden im Machtbereich der Nazis und die Fortsetzung und Steigerung des nicht zu gewinnenden, “verlorenen” Krieges bis zum Kriegsende Mai 1945 müssen zusammen gesehen werden. Sie sind die zwei Seiten derselben Medaille. Der Dezember 1941 ist das Schlüsseldatum. Nicht nur der zeitliche Zusammenhang der Entscheidungen spricht dafür. Wer je in dramatischen, existenziellen, politischen Entscheidungssituationen stand - und der Dezember 1941 war für Hitler mit Sicherheit eine solche - wird sich dieser Einsicht nicht verschließen können.

Hitler hat die drohende Niederlage damals mehr als geahnt, er blickte in den Abgrund. Dafür spricht viel, nicht nur Indizien (wie u. a. die Rückzugspläne des deutschen Generalstabs aus Russland). Ein politischer Hohlkopf war Hitler nicht, im Machtpoker kannte er sich aus. Sein kometenhafter Aufstieg vom einfachen Agitator zu Beginn der Weimarer Republik bis zum Russlandfeldzug 1941 spricht für sich. Er musste sich der hoffnungslosen Lage nach dem Scheitern des Russlandfeldzuges im Dezember 1941 vor Moskau bewusst gewesen sein; denn wiederholt hatte er betont, dass es einen Zweifrontenkrieg wie im 1. Weltkrieg unbedingt zu vermeiden gelte, weil er nicht durchzuhalten sei. Auf der Gegenseite war sich Churchill seit Dezember 1941 absolut sicher, dass er trotz  Rückschlägen in den kommenden Jahren letztlich als Sieger aus dem Krieg hervorgehen würde.

Die drohende Niederlage vor Augen hat Hitler ein infernalisches Untergangs- und Vernichtungsszenario in Gang gesetzt, dessen Opfer nicht nur die Juden, sondern das deutsche Volk und die Weltgeltung Europas werden sollten. Die Juden in seinem Machtbereich konnte er physisch vernichten, das deutsche Volk in einen Verzweiflungskampf stürzen und damit seine Existenz als Nation in Frage stellen. Das britische Empire, das schon im 1. Weltkrieg Risse gezeigt hatte, würde den von Hitler ins Auge gefassten, prolongierten Konflikt nicht überstehen. In seinem Kampf gegen Hitler bis zur “bedingungslosen Kapitulation” Deutschlands spielte Churchill Hitler in die Hände, weil er dem deutschen Durchhaltewillen bis zum Schluss 1945 mit der Forderung nach “bedingungsloser Kapitulation” eine, wenn nicht die entscheidende Motivation gab. Frankreich war ohnehin besiegt. Am Ende der Kriegshandlungen würden Millionen Juden vernichtet, Deutschland in Ruinen liegen und Europa als Machtfaktor in der Welt ausgelöscht sein. Die Welt sollte ihn auch ohne Sieg nie vergessen. Er würde einen Untergang inszenieren, der sich in das Gedächtnis der Welt einbrennen sollte.

Wenn Hitler eine Gabe hatte, dann die der politischen Inszenierung. Er schuf Bühnen für die Politik, die die Zeitgenossen immens beeindruckten, ja hinrissen (ob man das in späteren Zeiten nun unverständlich und eher komisch findet oder nicht):  so  u. a. die Reichsparteitage, die Olympischen Spiele 1936. Die Filme von Leni Riefenstahl legen noch heute Zeugnis davon ab. Nicht alles war seine Erfindung. Er kupferte bei Mussolini und bei Stalin ab, schuf aber auch eigenes. Die gigantischen Ausbaupläne für Berlin, die er sich von Albert Speer entwerfen ließ, dokumentieren seinen Inszenierungstrieb und -willen. Sie legen Zeugnis ab von einer Bauwut, die für die Ewigkeit von ihm künden sollte. Er wollte vor der Geschichte als einer der ganz Großen dastehen, als einer von denen, die man nicht vergisst. Das Umkippen des Krieges im Dezember 1941, die drohende sichere Niederlage veränderte die Voraussetzungen. Nur noch in der grandiosen Inszenierung des Untergangs konnte er zu jener Unsterblichkeit gelangen, die er mit seinen Bauten nicht mehr erreichen konnte.

Den millionenfachen Mord an den Juden würden die Juden in der Erinnerung wach halten, die außerhalb seines Machtbereichs lebten - so wie die Juden u. a. die Flucht mit Moses aus Ägypten, die Verschleppung an die Ufer von Tigris und Euphrat im 6. Jahrhundert v. Chr. festgehalten und in unvergesslichen Metaphern tradiert hatten. (Vgl. Holocaust - Folge von Hitlers Ruhmsucht? in: www.guntram-von-schenck.de) Die Deutschen wiederum würden sich jahrhundertelang fragen, wie es möglich war, dass sie bis zum Schluss für eine Sache kämpften, die ihr eigener Untergang war - materiell und moralisch. Hitler sah übrigens voraus, dass die Deutschen nach dem Krieg unmittelbar vom “Hosianna” auf das “Kreuzige ihn” übergehen würden. Europa und die Welt würden  sich auch noch nach großem zeitlichen Abstand über diese Zeit beugen, weil sie das Ende einer der glanzvollsten Perioden der Menschheitsgeschichte bedeutete, die mit der Vorherrschaft Europas seit der Renaissance einher ging.

Die Deutschen kämpften von der Kriegswende im Dezember 1941 bis zum Schluss im Mai 1945 einen verlorenen Krieg. Rund 5 ½ Millionen Männer fielen, davon im letzten Kriegsjahr ebenso viele wie in den Kriegsjahren zuvor. Die Städte in der Heimat versanken spätestens ab 1944 schutzlos im Bombenhagel der alliierten Luftflotten in Schutt und Asche. Millionen Familien wurden obdachlos, hunderttausende Zivilisten fielen den alliierten Bomberangriffen zum Opfer. Trotzdem wurde der Kampf bis zur Schlussphase in und um Berlin durchgehalten. Von Mitte April 1945 bis zur Kapitulation in Berlin hatte die Rote Armee nochmals nach offiziellen Zahlen 306.000 Mann Verluste.

In den allerletzten Kriegstagen bis zur Eroberung des Reichstags durch die Rote Armee fielen auf den wenigen hundert Metern zwischen dem Berliner Spreeknie, wo heute das neue Kanzleramt und die Schweizer Botschaft stehen, tausende deutscher und russischer Soldaten den Kämpfen zum Opfer. Die Rote Armee hatte auf dem Reichstag bereits die Rote Siegesfahne gehisst, da wurde aus dem Keller und oberen Stockwerken des Reichtags noch immer zurück geschossen. Ähnliches gilt für den Abwehrkampf an der Westfront, u. a. bei Aachen im Hürtgenwald, im Elsass. Da fiel kein Kartenhaus bei der ersten ernsthaften Erschütterung zusammen, wie vielfach in den heutigen deutschen Medien suggeriert wird. 

Es ist diese kompromisslose, entschiedene Gegenwehr bis zum bitteren Ende, die schon für die Generation der Kinder und Enkel der damaligen Wehrmachtsoldaten kaum oder gar nicht nachvollziehbar ist, obwohl sie der Erlebnisgeneration noch am nächsten stehen. Das dürfte nicht nur mit der "post-heroischen” Zeit zusammenhängen, in der wir Anfang des 21. Jahrhunderts in den westlichen, insbesondere europäischen Gesellschaften leben. Bis zur alliierten Landung im Sommer 1944 in der Normandie und dem sowjetischen Durchbruch im Mittelabschnitt der Ostfront mag man sich ja noch in der Illusion gewiegt haben, es könne alles noch halbwegs gut ausgehen. Ab Sommer 1944 nicht mehr, jeder Zweifel war ausgeschlossen. An allen Fronten folgte Niederlage auf Niederlage. Die Verluste wurden immer höher. Das Schlachtfeld verlagerte sich auf das Reichsgebiet, schließlich auf Berlin.

Trotzdem wurde der Kampf fortgesetzt. Für viele entscheidend war die frühe alliierte Forderung nach der “bedingungslosen Kapitulation”.  Dazu waren die meisten nicht bereit; dann lieber Untergang im Kampf. Die Lähmung der inneren Opposition gegen Hitler und seine Kriegsführung war die Folge. Preußische Militärdisziplin, die unnachsichtige Verfolgung von so genannten Wehrkraftzersetzern mögen auch eine Rolle gespielt haben. Die Dolchstosslegende, die an der Fiktion eines im Felde unbesiegten deutschen Heeres am Ende des 1. Weltkriegs festhielt, hatte sicherlich ihre Wirkung: so etwas durfte sich nicht wiederholen. Wie weit mythische Vorstellungen von Götterdämmerung, Nibelungentreue etc bei Einzelnen mitgespielt haben, lässt sich kaum erfassen. Hitler hing diesen Mythenbildern an, er suchte sie auf der großen Weltbühne zu inszenieren und zu verwirklichen - was ihm gelang.

Ab Dezember 1941 begann die systematische, organisierte Ermordung von 6 Millionen Juden in Hitlers Machtbereich. Wie schon ausgeführt gehören beide Entscheidungen zusammen: die Fortsetzung des nicht zu gewinnenden Krieges und der Genozid an den Juden. Hitler wollte die Juden, derer er habhaft werden konnte, in seinen Untergang und den Untergang seines Reiches mit hinein reißen. Er versprach sich davon eine unvergessliche Steigerung der von ihm in Gang gesetzten Gewaltorgie. Der Holocaust lief ab wie geplant. Vielfach auch auf Kosten einer effizienten Kriegsführung. Transportmittel wurden u. a. nicht für den dringend benötigten Nachschub eingesetzt, sondern für Menschentransporte nach Auschwitz, Treblinka. Auch wurde der Holocaust vor der Bevölkerung soweit wie möglich geheim gehalten (Peter Longerich, Davon haben wir nichts gewusst, München 2006, S. 324 ff). Das Kriegsgeschehen und der Genozid an den Juden  lassen sich nicht trennen, sie greifen ineinander und bedingen sich gegenseitig. Jonathan Littell hat das in seiner Romanfiktion, "Die Wohlgesinnten" (Deutsche Ausgabe 2008) treffend und bleibend dargestellt. ”Was man Nachwelt nennt, ist das Fortleben der Werke”, Marcel Proust.

 Aus der zeitlichen Distanz

Wie könnte die Nachwelt diese Geschehnisse aus langem zeitlichen Abstand beurteilen? Sicherlich wäre es unzureichend und zu einfach, allein auf Adolf Hitler abzustellen. Selbstzerstörende Kräfte gab es im Europa der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts allenthalben. Die Aufklärung, die abendländische Rationalität war vielfach im Begriff “umzuschlagen”, wie Theodor W. Adorno es formuliert hat. Der Kommunismus z. B. war eine Idee, die die Menschheit beglücken sollte, brachte aber Unglück, Verbrechen und millionenfachen Tod. Der Kapitalismus oder der Markt, der angeblich alles richtet, verursachte 1929 ff eine schwere Wirtschaftskrise, die Millionen Menschen auf der ganzen Welt arbeitslos machte, Gesellschaften zerrüttete und in Deutschland in die Machtergreifung der Nazis mündete. (Es ist zu hoffen, dass die Auswirkungen der Finanzkrise 2007/2008 weniger dramatisch sein werden.)

Die Wissenschaft erfüllte ihr Heilversprechen nur teilweise und brachte u. a. mit der Atombombe Tod und Verderben bis hin zum drohenden Untergang der Menschheit. Wissenschaft ist nicht als solche gut. Die Aufklärung und ihre Rationalität lief völlig aus dem Ruder, sie schlug ins Unmenschliche um. Die Exzesse der Rationalität, die nur nach dem Nützlichen und Machbaren fragte, waren die Folge eines umfassenden Werteverlustes, Folge einer radikalisierten Aufklärung, die alles in Frage stellte und umstürzte. Europa verlor die Selbstgewissheit. Es begann an sich und seiner historischen Mission zu zweifeln. Untergangsphantasien machten die Runde. Offenkundig waren Auflösungserscheinungen: Ungewissheiten und Orientierungslosigkeit, die nicht selten in Aggressivität umschlugen. Besonders ausgeprägt war dies in Deutschland, dessen Gesellschaft durch die Niederlage im 1. Weltkrieg nachhaltig erschüttert und besonders verunsichert war. So oder ähnlich könnte eine Diagnose aus der zeitlichen Distanz lauten.

Der Antisemitismus war, wie nicht zu übersehen ist, keineswegs auf Deutschland beschränkt. Es gab in den meisten Ländern Europas und den USA einen latenten Antisemitismus, oft in Form eines gesellschaftlich akzeptierten Salon-Antisemitismus. Kaum ein Staat war bereit, die aus Nazi-Deutschland vertriebenen Juden aufzunehmen. In Deutschland verdichtete sich der Antisemitismus zum Holocaust erst im Dezember 1941, als der Krieg bereits verloren war. Vorher hatte es antisemitische Hetze, Drangsalierungen und Verfolgungen gegeben, aber keinen systematischen und organisierten Genozid. Nachdem man weiß, wohin das in Krisenzeiten führen kann, wird es hoffentlich in mehreren hundert Jahren keinen Antisemitismus mehr geben. Der sich seit der Gründung Israels ausbreitende Antisemitismus in der arabischen, islamischen Welt mit zunehmend religiöser Grundierung - etwas was es vorher im Islam nicht gab - ist allerdings Grund zur Beunruhigung.

Der hoffnungslose Krieg Deutschlands mit dem entfernten Verbündeten Japan praktisch gegen den Rest der Welt ab Dezember 1941 bis zur finalen Schlacht um Berlin im April/Mai 1945 dürfte die Nachwelt nicht nur als Rätsel interessieren: gewissermaßen als Fallstudie einer Gesellschaft, deren letzte kämpfende Vertreter nach jahrelangem hoffnungslosem Krieg schließlich in Berlin physisch vernichtet werden mußten. Es war bisher üblich, dass ein derartiger Widerstand in späteren Zeiten heroisiert und glorifiziert wurde. Man denke an den hoffnungslosen Kampf des Spartanerkönigs Leonidas an den Thermopylen gegen die Perser 480 v. Chr. Wahrscheinlich hat auch Hitler und seinen engsten Getreuen etwas Ähnliches vorgeschwebt. Den Soldaten in Stalingrad hielten sie Leonidas und seine Spartaner als leuchtendes Beispiel vor.

Im Deutschland der Nachkriegszeit bis Anfang des 21. Jahrhunderts und von der alliierten Geschichtsschreibung wurde dieser Abwehrkampf weitgehend verschwiegen. Die Briten schwelgen geradezu in einer Herabwürdigung des angeblich “feigen” deutschen Feindes. Das Verschweigen scheint Teil des Exorzismus zu sein, mit dem man jedweder Verherrlichung des Nazi-Regimes begegnet, ein Tabuthema, das man ungern berührt. Das nützt freilich nichts. Spätere Generationen werden sich vor einer Wiederauferstehung der Nazi-Ideologie nicht mehr zu fürchten brauchen und dieses Thema unbefangener angehen. Vielleicht wird man in dieser kriegerischen Unbeugsamkeit einen markant deutschen Charakterzug sehen, eine Bündelung  sogenannter deutscher Sekundartugenden. Voraussichtlich wird von diesem Todeskampf für die Nachwelt eine gewisse Faszination ausgehen.

Dies umso mehr, als er auf das engste mit dem Genozid an den europäischen Juden verbunden ist. Nach 1945 hat man gehofft und glaubte annehmen zu können, dass der Genozid nun für immer gebannt sei und der Vergangenheit angehöre. Leider haben wir in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren müssen, dass dem nicht so ist: Ruanda, Kambodscha, Bosnien/Srebrenica, Sudan/Darfur sind traurige Beispiele für das Gegenteil. Die Türkei weigert sich bis heute beharrlich, den Völkermord an den Armeniern im 1. Weltkrieg einzugestehen. Wie gehört das zusammen: Völkermord auf der einen, schwere Krisen, Krieg um die Existenz, sei es der eigenen Nation oder  des eigenen Volkes auf der anderen Seite? Welche Prädispositionen begünstigen in solchen Situationen kollektive Radikallösungen, die im Genozid gipfeln können? Wenn die Menschen in künftigen Generationen keinen moralischen Quantensprung machen, wofür leider wenig spricht, muss man davon  ausgehen, dass der Genozid in Extremsituationen  auch künftig nicht ausgeschlossen werden kann. Dann wird der 2. Weltkrieg vom Dezember 1941 bis Mai 1945 ein Fallbeispiel sein, das möglicherweise auf einige Fragen Aufschluss geben kann.

Das Kriegsende 1945 besiegelte auch das Ende der europäischen Vorherrschaft in der Welt. Zwar durften Churchill, später auch de Gaulle für Frankreich unter den Siegern Platz nehmen. Churchill konnte schon seit 1943 keinen entscheidenden Einfluss mehr auf Kriegsverlauf und Nachkriegsordnung nehmen, wie er schmerzlich erfahren mußte. Frankreich war ohnehin geschlagen worden. Das Empire, für das Churchill gestritten hatte, zerbrach unmittelbar danach. Dem Kampf gegen Hitler hatte Churchill entgegen seiner Zielsetzung das Empire geopfert. Entscheidend ist die Verlängerung des Krieges, die dem britischen Empire letztlich das Kreuz brach. Großbritannien war 1945 so erschöpft, dass es die Gestaltung der Nachkriegsordnung anderen, den USA und Stalin  überlassen musste. Der Konkurrent Deutschland war zwar ausgeschaltet, aber Großbritannien lag selbst am Boden. Das gleiche galt für Frankreich. Als europäische Großmacht hatte allein die Sowjetunion bis zur Zeitenwende 1989/1990 überlebt.

Die klassischen Mächte Europas: Frankreich, Großbritannien, Deutschland waren 1945 entmachtet. Europa hatte die Möglichkeit, seine Zukunft selbst zu bestimmen, zumindest für eine längere Zeitspanne verloren. Deutschland war besiegt, die Großmachtstellung von London und Paris stand nur noch auf dem Papier. Der Aspekt einer aus den Fugen geratenen europäischen “balance of power”, die nicht mehr das Zurechtstutzen sondern das Ausschalten eines Gegners und Mitspielers im europäischen Mächtekonzert zum Ziel hatte, wird als eine Art kollektiver Suizid Europas die Nachwelt ebenfalls faszinieren. Das gilt besonders dann, wenn auf dem Globus eine multipolare Welt entsteht, wie es zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Anschein hat. Diese multipolare Welt wird vor Problemen stehen, die denen Europas im 20. Jahrhundert gleichen.

Wenn nicht alles täuscht wird die Nachwelt nach vielen Jahrhunderten von Deutschland demnach in Erinnerung behalten: 1) den objektiv hoffnungslosen Kampf gegen eine übermächtige Koalition bis zur letzten Schlacht um Berlin 1945, 2) den Genozid an den europäischen Juden, der mit dem seit Dezember 1941 radikalisierten Krieg untrennbar im Zusammenhang steht und 3) das Ende der europäischen Vorherrschaft in der Welt infolge des Kampfes von  Churchill um die endgültige Ausschaltung Deutschlands als Konkurrenten. An diesen drei Punkten könnte sich abarbeiten, wer aus deutscher Sicht zum überlieferten Bild unserer Geschichte für die Nachwelt beitragen will.

Das ist zugegeben eng und irgendwie schade. Denn damit geraten die eigentlich wichtigen deutschen Beiträge zur europäischen Geschichte, die deutsche Philosophie und die klassische Musik, ins Abseits und möglicherweise in Vergessenheit. Es bleibt jedoch dabei: Mit den zwei Weltkriegen und dem Höllenritt von Dez. 1941 bis Mai 1945 hat sich Deutschland für immer ins Gedächtnis der Menschheit eingebrannt und ist - man kann es auch so ausdrücken - der Geschichtslosigkeit entronnen. Manche mögen eine deutsche Geschichtslosigkeit einer solchen deutschen Geschichte vorgezogen haben. Ändern können sie es nicht mehr.

Die zeitliche Bedingtheit historischen Wissens

Martin Heidegger hat herausgearbeitet, dass die Suche nach dem absoluten zeitlosen Fundament der Erkenntnis aus dem Vergessen der menschlichen Zeitlichkeit kommt. Der Mensch wird in das “Sein geworfen”, über das er in der kurzen Zeit, in der er lebt, keine Verfügung hat. Die Geschichtlichkeit des Menschen ist eine Bedingung der Möglichkeit des Verstehens. Die geschichtliche Gebundenheit ist die Vorstruktur des Verstehens, der Mensch kann sich davon nicht lösen. Das gilt auch für unsere Gegenwart. Wir sind in diese Vorstruktur, in unsere zeitgebundenen Vorurteile eingebunden (vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986, 16. Aufl., S.114).  Die Zeitgebundenheit unseres heutigen Verstehens der jüngsten deutschen Geschichte ist offenkundig. Frei machen können wir uns davon nicht. Wir können unseren Zeithorizont, die kurze Phase unserer Existenz nicht überschreiten. Wir wissen nicht, in welchen Sinnzusammenhang die Menschen in einigen hundert Jahren die deutsche Geschichte der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts sehen und stellen werden. Es wird ein anderer sein als heute.

Guntram von Schenck, Oktober 2008

 


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