Dr. Guntram von Schenck, Februar 2023
Deutschland und Osteuropa
Brest-Litowsk (1918), Potsdam (1945), Zeitenwende (2022)Zukunft der Vergangenheit
Zukunft der Vergangenheit
Der geographische Raum zwischen Russland und Deutschland ist seither politisch umstritten und umkämpft. Die Konflikte in Zentral- und Osteuropa sind bis heute virulent, wie der Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine zeigt. Die Suche nach einer Neuordnung und Stabilität dieses Raums, die bis heute andauert, wird aus einer deutschen Sicht nachgezeichnet.
Wie kann oder sollte eine künftige Ordnung aussehen? Gibt die Geschichte Hinweise?
I.
Politische Grenzen
Politische Grenzen
1) Vertrag von Brest-Litowsk März 1918
Ein schlagendes Beispiel für die Rückkehr der Vergangenheit in die Gegenwart ist die Grenzziehung des Friedens von Brest-Litowsk vom 3. März 1918. Im Ersten Weltkrieg (1914 - 1918) hatten das Deutsche Reich, die Österreichische Doppelmonarchie und die Türkei (Mittelmächte) den Separatfrieden von Brest-Litowsk mit der jungen Sowjetunion geschlossen. Im Osten hatten die Mittelmächte gesiegt und Russland war aus der Kriegskoalition gegen das Deutsche Reich ausgeschieden. Der Vertrag von Brest-Litowsk besiegelte Russlands Niederlage, das große Gebietsverluste hinnehmen musste. In die Geschichtsschreibung ging er - ebenso wie der Versailler Friedensvertrag von 1919 - als Diktatfrieden ein.
Der Vertrag von Brest-Litowsk verschwand aus der öffentlichen politischen Wahrnehmung. Dafür gab es Gründe: In Moskau wurde er als kluges taktisches Manöver Lenins und letztlich bedeutungslose Episode abgewertet, um die junge Sowjetunion zu retten. Lenin habe nur zugestimmt, weil er davon ausging, die verlorenen Gebiete in Kürze wieder zurück erobern zu können – was auch geschah. In Deutschland und bei den Ententemächten galt er als Beispiel exzessiver Machtpolitik der deutschen Obersten Heeresleitung, das mit der deutschen Niederlage im Westen jede Bedeutung verlor. Brest-Litowsk verschwand als bedeutsames, politisches Datum aus dem europäischen kollektiven Gedächtnis.
Die historische und zukunftsweisende Bedeutung von Brest-Litowsk wurde verkannt. Denn der Grenzverlauf von Brest-Litowsk entspricht im Wesentlichen bis auf wenige Abweichungen der heutigen Grenze der Russischen Föderation. Im Frieden von Brest-Litowsk verzichtete Moskau auf seine Hoheitsrechte in Polen und dem Baltikum: Litauen und Kurland, Estland und Livland. Die Ukraine und Finnland wurden als unabhängige Staaten anerkannt. Ein Ergänzungsabkommen , das am 27. August 1918 in Berlin unterzeichnet wurde, bestätigte zusätzlich die Unabhängigkeit Georgiens (die deutschen Truppen räumten im Gegenzug das besetzte Belarus westlich des Dnjepr).
Alle diese Staaten, von Finnland über das Baltikum, Polen, die Ukraine bis Georgien hatten zum Russischen Zarenreich gehört. Selbstverständlich (!) wären sie bei einem Sieg Russlands über die Mittelmächte im Russischen Reich und unter der Knute der Zaren verblieben. Als Siegermacht hätte Russland seinen Griff über die Randvölker des Imperiums noch verstärkt. Es war der Sieg der Mittelmächte im Osten, vor allem der deutschen Heere Ost, der ihnen die Loslösung von Moskau und im Fall der Ukraine die erste Anerkennung eigener Staatlichkeit überhaupt einbrachte. (Anerkennen wir unsere deutsche Vaterschaft - einschließlich der Verantwortung für das Wohlergehen dieser Staaten!)
Noch vor dem Vertrag von Brest-Litowsk hatten die Mittelmächte unter der Führung Deutschlands mit der Regierung der Volksrepublik Ukraine an 9. Februar 1918 einen Separatfrieden geschlossen. Die Mittelmächte anerkannten den ukrainischen Staat an, der gegen günstige Grenzziehungen umfangreiche Getreidelieferungen zusagte. Der Vertrag galt deshalb als Brotfriede. Im nachfolgenden Vertrag von Brest-Litowsk erzwangen die Mittelmächte, wieder unter maßgeblicher Beteiligung Berlins, die Anerkennung der Unabhängigkeit der Ukraine durch Moskau. Die deutsche Regierung wollte die in der Ukraine stehenden Truppen zur Verstärkung der Westfront abziehen und dank der ukrainischen Getreidelieferungen die Hungersnot im Reich lindern. Diese Erwartungen erfüllten sich nicht.
Nach der Niederlage Deutschlands im Westen und dem Waffenstillstand von Compiègne am 11.11.1918 zogen sich die deutschen Truppen aus Ostmitteleuropa, auch der Ukraine, zurück. Die Rote Armee konnte die Ukraine und Georgien wenig später wieder erobern. Die Unabhängigkeit von Moskau hatte nur circa ein Jahr gedauert - solange sie durch deutsche Truppen abgesichert war. Lediglich im Baltikum verblieben deutsche Truppen - auf Geheiß der Ententemächte – noch bis Dezember 1919 und sicherten die Unabhängigkeit dieser Staaten von Moskau ab. Auch Finnland und nach schweren Kämpfen Polen konnten ihre Unabhängigkeit von Moskau retten.
Der Erste Weltkrieg hat zwei Seiten: Sieg der Entente im Westen (infolge des Eingreifens der USA), deutscher Sieg im Osten, letzterer mit weitreichenden Folgen. Entlang der im Diktatfrieden von Brest-Litowsk durchgesetzten Grenzziehung brechen heute mit dem Krieg Putins gegen die Ukraine und den Verteidigungsmaßnahmen der NATO von Finnland, über das Baltikum, Polen bis an das Schwarze Meer die Konfliktlinien des Ersten Weltkrieges wieder auf. Es war das im Osten siegreiche Deutsche Reich, das in diese Grenzlinie gegenüber Russland gezogen hat.
Die Ententemächte, England und Frankreich, hatten beim Waffenstillstand von Compiègne im November 1918 und in den Versailler Friedensverträgen von 1919 (sog. Pariser Vorortverträge) kein Verständnis oder Konzept für den zentral- und osteuropäischen Raum. So verloren Georgien und die Ukraine rasch ihre Unabhängigkeit und gingen wieder an das sowjetische Russland verloren. Die Entente unter Führung Englands und Frankreichs ordnete in den Versailler Verträgen Zentral- und Osteuropa sowie den Balkan in einer chaotischen Weise. Sie richteten ein heilloses Chaos an, das Ursache schwerer Konflikte und Kriege werden sollte (dazu unten). Diese wirken bis heute nach.
Die Erinnerung an die staatliche Unabhängigkeit von Moskau blieb in dem Raum zwischen Ostsee und dem Schwarzen Meer, von Finnland, das Baltikum, Polen, die Ukraine bis Georgien wach und brach sich 1991 beim Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes wieder Bahn. Es ist der Raum, über den Putin, sei es durch Einverleibung der Ukraine oder Ausübung einer Hegemonie Moskauer Ansprüche durchsetzen will. Der Vertrag von Brest-Litowsk ist ein Beispiel völlig unterschätzter historischer Wirkungsmächtigkeit. Er war ein Diktat, gewiss, aber Brest-Litowsk wurde vom weiteren Verlauf der Geschichte bestätigt.
2) Potsdamer Abkommen Juli/August 1945
Wenn Brest-Litowsk die weiteste Ausdehnung deutschen Einflusses in Zentral- und Osteuropa aufzeigt, so ist das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 der absolute Tiefpunkt deutschen Einflusses und deutscher Präsenz in diesem Raum. Es war der Endpunkt eines Krieges, den Hitler (1. Sept. 1939) und Stalin (16. Sept.1939) mit dem Angriff und der Aufteilung Polens begonnen hatten. England und Frankreich hatten am 3. September 1939 mit einer Kriegserklärung an das Deutsche Reich geantwortet, obwohl sie Polen keinerlei konkrete Hilfe zukommen lassen konnten. Briten und Franzosen unternahmen auch keinerlei Entlastungsversuche im Westen. Der Stellungskrieg im Westen (drôle de guerre) wurde mit dem deutschen Blitzkrieg im Frühsommer 1940 und der Niederlage Frankreichs beendet. Die Briten saßen auf ihrer Insel und kämpften gestützt auf das Empire weiter.
Vergleichbar der politischen Lage in Europa, aus der heraus - mutatis mutandis - schon Napoleon sich 1812 zum Feldzug gegen Russland gezwungen glaubte, begann am 22. Juni 1941 mit dem Unternehmen Barbarossa Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion. Er hat bei Russen und Deutschen tiefe Wunden geschlagen, die bis heute nicht gänzlich verheilt sind. Dieser Krieg kann hier auch nicht ansatzweise nachgezeichnet werden (siehe dazu u. a.: Guntram von Schenck, „Kriegswende Dezember 1941 und Holocaust“ in: Schriften I, Radolfzell 2013, S. 235 ff. und www.guntram-von-schenck.de). Er hat in ganz Zentral- und Osteuropa, besonders aber in der Ukraine und Weißrussland, wo der Schwerpunkt der Kämpfe lag, millionenfachen Tod und schwerste Verheerungen hinterlassen. Die Wehrmacht scheiterte und wurde unter dem Druck des Zweifrontenkrieges bis zu den Endkämpfen um Berlin Ende April/Anfang Mai 1945 zurückgeschlagen.
Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg verloren und musste am 8./9. Mai 1945 bedingungslos kapitulieren. Deutschland war besetzt und in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die deutschen Ostprovinzen Schlesien, der größte Teil Pommerns und Ostpreußen wurden abgetrennt, die deutsche Bevölkerung vertrieben. Die gewaltige von den Siegermächten veranlasste ethnische Säuberung betraf aber nicht nur diese Provinzen, sondern einschließlich des Sudetenlandes im heutigen Tschechien (Böhmen und Mähren) geschlossene, deutsche Siedlungsgebiete und Streusiedlungen in ganz Zentral- und Osteuropa: vom Baltikum, dem Balkan, der Ukraine bis zur Krim und Wolga. Es war die größte Bevölkerungsverschiebung in Europa seit der Völkerwanderung. (Auf Betreiben Londons sollten auch die Deutschen aus der ehemaligen deutschen Kolonie Namibia ausgewiesen werden, ehe ein Mehrheitswechsel im Parlament der Mandatsmacht Südafrika das verhinderte.)
Rund 15 Millionen Deutsche verloren ihre Heimat, schätzungsweise eineinhalb Millionen kamen dabei um. Es waren Frauen, Kinder alte Männer, die ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet wurden. Es waren die Briten (Churchill), die diesen Bevölkerungstransfer initiiert hatten, Polen, Tschechen und Russen führten ihn aus. Von einem geordneten Transfer, wie von den Alliierten behauptet, konnte keine Rede sein. Überall wurden die Spuren früherer, zum Teil jahrhundertealter deutscher Präsenz getilgt, im sowjetisch besetzten Teil Ostpreußens blieb kein Stein auf dem anderen. Die Verschiebung der deutschen Grenze um circa 200 km nach Westen sollte für immer festgezurrt, die Grenzziehung an der Oder-Neisse unumkehrbar gemacht und „Ostdeutschland“ aus dem Gedächtnis der Menschheit getilgt werden. Nichts sollte mehr an die Deutschen in diesem Raum erinnern.
Moskau hatte sein Imperium zurückgewonnen und sogar noch vergrößert. Sowjetische Truppen standen nun an der Elbe, in Thüringen und kurz vor Hamburg. Berlin lag, abgesehen von der Enklave Westberlin, mitten im sowjetischen Machtbereich. Deutschland war geteilt. Die Ukraine und Georgien, die schon von der Roten Armee unter Lenin zurückerobert worden waren, blieben Bestandteil der Sowjetunion. Das Baltikum, Moldawien, ein Teil Polens und Finnlands kamen hinzu. Mit dem Warschauer Pakt organisierte Moskau seinen Machtbereich über Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Die DDR rundete dieses Imperium ab. Jugoslawien konnte seine Unabhängigkeit wahren, wurde aber unter Tito kommunistisch. Der Kalte Krieg fror diese Grenzziehungen und Machtsphären auf Jahrzehnte ein. In der KSZE-Schlussakte erreichte Moskau die Anerkennung des neu gewonnenen Imperiums durch den Westen. Der deutsche Einfluss im zentral- und osteuropäischen Raum war seit 1945, abgesehen von wenigen von Moskau tolerierten Ausnahmen, auch nach der Gründung der Bonner Republik 1949 gleich Null.
3) Auflösung der Sowjetunion 25. Dezember 1991
Die Auflösung der Sowjetunion geschah freiwillig, man kann es nicht genug betonen! Vorausgegangen war 1989/1990 die Deutsche Einheit, der sich Moskau nicht entgegenstellte, und die Auflösung des Warschauer Paktes am 31. März 1991. Der Zerfall der Sowjetunion war eine Implosion, die niemand so und schon gar nicht so schnell vorhergesehen hatte. Es gab keinerlei militärische Intervention von Außen, keinen militärischen Druck, keine Sanktionen oder ähnliches. Außerhalb der Sowjetunion gab es eher Befürchtungen, dass das Zerbrechen der Sowjetunion ein Chaos mit unabsehbaren Folgen auslösen könnte. Man setzte im Westen, insbesondere in den USA und Westeuropa, auf politische und geographische Stabilität und Kontinuität im postsowjetischen Raum. Zeigt doch die historische Erfahrung, dass die Auflösung von Imperien meist mit schweren, kriegerischen Auseinandersetzungen und blutigem Streit um das Erbe einhergehen. Das wollte niemand.
Die Selbstauflösung wurde am 25. Dezember 1991 im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Staatspräsidenten Russlands, Belorusslands und der Ukraine vollzogen - ohne Blutvergießen, ohne dass ein Schuss gefallen war. Eine überwältigende Mehrheit von 90% hatte in der Ukraine schon in einer Volksabstimmung am 1. Dez. 1991 für den eigenen Nationalstaat gestimmt. Am 24. August 1991 war die formale Unabhängigkeitserklärung der Ukraine erfolgt. Georgien hatte bereits am 9. April 1991, die baltischen Staaten am 20. August 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt, die am 6. Sept. 1991 von Moskau anerkannt wurden. Im Baltikum war der Schritt zur Unabhängigkeit allerdings nicht ohne Blutvergießen verlaufen.
Nach der Auflösung der Sowjetunion lagerten noch zahlreiche Nuklearwaffen auf den Territorien der früheren Sowjetrepubliken Ukraine, Belarus und Kasachstan. Die Ukraine besaß zu diesem Zeitpunkt das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt. Die USA, die eine unkontrollierte nukleare Proliferation befürchteten, drängten darauf, die Nuklearwaffen in den Händen der Russischen Föderation als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion zu konzentrieren. Im Budapester Memorandum vom 5. Dez. 1994 gaben die Russische Föderation, die USA und Großbritannien der Ukraine, Belarus und Kasachstan Sicherheitsgarantien als Gegenleistung für die Aufgabe der Nuklearwaffen und deren Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag. Die Sicherheitsgarantie bestand in der Verpflichtung, die Souveränität und die Unverletzlichkeit der Grenzen sowie die territoriale Integrität zu achten. Die Ukraine hat die Atomwaffen bis 1996 übergeben. Russland hingegen verletzt seit 2014 kontinuierlich seine im Budapester Memorandum von 1994 gegebenen Sicherheitsgarantien gegenüber der Ukraine. Wäre die Ukraine noch im Besitz der Atomwaffen, wäre die Lage sicher eine andere...
Für Putin, den heutigen Staatspräsidenten der Russischen Föderation, der 1989 beim Zusammenbruch der DDR als Agent des sowjetischen KGB in Dresden residierte, hat eine unglückliche Politik in Moskau unter Gorbatschow die Auflösungserscheinungen verursacht und das imperiale Gebäude russischer Machtausdehnung über Ost- bis Mitteleuropa zum Einsturz gebracht. Er hat den Zusammenbruch persönlich, hautnah und schmerzhaft in Dresden miterlebt. Eine Zeit als junger, machtbewusster und einflussreicher KGB-Agent ging für ihn zu Ende. Er hatte wie andere darauf gewartet, dass aus Moskau die Order eines militärischen Eingreifens eintreffen würde. Gorbatschow aber wollte nicht. Der Erfolg der großen Machtausdehnung des Moskauer Imperiums wurde aus der Sicht Putins verschenkt, dem Untergang der DDR folgte der Warschauer Pakt und die Auflösung der Sowjetunion.
Für Putin ist die Auflösung der Sowjetunion die geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts schlechthin, die rückgängig gemacht, revidiert werden muss. Bei der Suche nach den Schuldigen stößt er in einem Aufsatz vom 12. Juli 2021 auf Lenin, der bei der Gründung der Sowjetunion am 30. Dezember 1922 die Möglichkeit eines Austritts aus der Sowjetunion in der Verfassung verankert hatte. So einfach ist es sicher nicht. Ohne Lenin hätte es die Rückeroberung großer Teile des alten Zarenreiches nach dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg, insbesondere der Ukraine und Georgiens, nie gegeben. Für die Implosion der Sowjetunion gibt es viele Gründe, Lenins Verfassung war es nicht, sie war lediglich der rechtliche Rahmen, der eine friedliche, freiwillige Auflösung möglich machte.
II.
Suche nach Stabilität
Suche nach Stabilität
1) Cordon Sanitaire zwischen Russland und Deutschland 1918 – 1939
Nach der Niederlage des Deutschen Reiches und der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg im Westen und dem Waffenstillstand von Compiègne (11. November 1918) zogen sich die deutschen Truppen aus den besetzten Gebieten im Osten mit der Ausnahme des Baltikums zurück. Es entstand ein Machtvakuum, das die Ententemächte England und Frankreich, die im Westen als Sieger hervorgegangen waren, zu füllen versuchten. Zunächst ohne klare Vorstellungen oder Konzept wollten sie in den Folgejahren den Raum zwischen Deutschland und der jungen Sowjetmacht mit einem sogenannten Cordon Sanitaire konsolidieren.
Die kommunistische Sowjetunion und das besiegte Deutschland galten als Paria-Staaten mit revisionistischer Agenda: die junge Sowjetunion versuchte die Randprovinzen des Russischen Imperiums zurück zu erobern, Deutschland haderte mit seiner Ostgrenze, die Ostpreußen vom Reich abtrennte. Beide Mächte wollten die Ententemächte in Schach halten. Polen fiel dabei mit der Tschechoslowakei und Rumänien eine Hauptrolle zu. Polen, das 1772, 1793 und 1795 zwischen dem Russischen Reich der Zaren, dem Habsburger Reich in Wien und Preußen aufgeteilt worden war, erhielt seine staatliche Unabhängigkeit zurück, Rumänien wurde erheblich um Siebenbürgen/Transsilvanien erweitert, die Tschechoslowakei und Jugoslawien aus der Taufe gehoben.
Wer künftig Fehler vermeiden will, kommt nicht umhin, frühere historische Entwicklungen, insbesondere zwischen Erstem und Zweiten Weltkrieg in den Blick zu nehmen. Der zentral- und osteuropäische Raum kann nur stabilisiert werden, wenn die Kräfte, die in und aus diesem Raum wirken und zur Entfaltung kommen, berücksichtigt werden. In der Zwischenkriegszeit war Polen bestrebt, Russland und Deutschland zurückzudrängen und möglichst aus dem zentral- und osteuropäischen Raum herauszuhalten. Es setzte dabei auf die Unterstützung Dritter, vor allem der Briten. Großbritannien war allerdings weit weg und nicht in der Lage, Polen zu Beginn, während und auch nicht nach dem Zweiten Weltkrieg irgendeine konkrete Hilfe zukommen zu lassen.
Es gibt in Zentral- und Osteuropa Konflikte, die wenig oder nichts mit Russland oder Deutschland zu tun haben, die den Raum destabilisieren (können). Polens Grenzen waren nach dem Ersten Weltkrieg äußerst umstritten. Polen führte 1918 und 1919 einen Krieg gegen die Ukraine (Westukrainische Volksrepublik) um die Kontrolle Ostgaliziens nach der Auflösung Österreich-Ungarns. Am 21. April 1920 kam es zu einem Friedensschluss. Die Ukraine akzeptierte eine Grenze entlang der Sbrutsch, weil Polen im Gegenzug Hilfe gegen die Rote Armee Moskaus zusagte, die aber nie eintraf. Es gab den Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 – 1921, der mit dem Sieg Polens in der Schlacht von Warschau (Wunder von der Weichsel) zugunsten Polens endete. Im Friedensvertrag von Riga (18. März 1921) gewinnt Polen das Gebiet um Lemberg (heute: Lviv in der Ukraine) hinzu und mit Wolhynien und Podolesien ein Gebiet, das bis zu 250 km östlich des geschlossenen polnischen Sprach- bez. Siedlungsgebiets lag.
Polen führte schließlich 1919 einen Polnisch-Tschechischen Grenzkrieg um das sogenannte Teschener Land, das geteilt wurde. Polen profitierte vom Münchner Abkommens vom 30. Sept. 1938 und besetzte und annektierte den tschechisch gebliebenen Teil des Teschener Landes. Im Münchner Abkommen war die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetenlandes gezwungen worden. Polen hat das Münchner Abkommen, das Hitler den Weg in den Zweiten Weltkrieg ebnete, genutzt, um sich einen Teil der Beute zu sichern. Hinzu kommt noch der Versuch einer Eroberung des deutschen Oberschlesiens 1919, der ebenfalls zur Teilung führte. Polen war nach dem Ersten Weltkrieg ein Gebilde mit umstrittenen Grenzen und zahlenmäßig großen Minderheiten: Ukrainer, Weißrussen, Deutsche etc. Gleichwohl trat Polen selbstbewusst auf und träumte von von einem Großpolen, das von der Ostsee bis ans Schwarze Meer reichen sollte.
Der Cordon Sanitaire hatte mit der Tschechoslowakei und Rumänien ebenfalls keine tragfähigen Stützen. In der Tschechoslowakei fremdelten Tschechen und Slowaken miteinander (und trennten sich 1991 endgültig), in Tschechien (Böhmen und Mähren) lebten dreieinhalb Millionen Deutsche (Sudeten) in geschlossenen Siedlungsgebieten seit Jahrhunderten, die sich als Minderheit schlecht behandelt fühlten (und wurden). Rumänien erhielt Siebenbürgen/Transsilvanien, das jahrhundertelang zu Ungarn gehört hatte und in dem mehrheitlich Ungarn lebten (ein Problem, das noch heute in der EU nachwirkt). Auch die Gründung Jugoslawiens könnte man mit einem Fragezeichen versehen. Die neuen Staaten waren im Zeichen des Selbstbestimmungsrechts geschaffen worden, das für alle gelten sollte (außer den Kriegsverlierern, den Deutschen und Ungarn).
Der Cordon Sanitaire war auf Sand gebaut. Der zentral- und osteuropäische Raum war nach dem Ersten Weltkrieg von inneren Konflikten zerrissen und wurde von Außen, der Sowjetunion und Deutschland, in Frage gestellt.
2) Deutschland : Minsk I, Minsk II, Nord-Stream 2
Ein neues Machtvakuum entstand mit dem Zerfall der Sowjetunion 1992. Der Einfluss- und Machtbereich Moskaus war wieder auf die Linie des Friedensvertrags von Brest-Litowsk vom März 1918 zurückgeworfen, dessen Grenzziehung ungefähr den Grenzen der heutigen Russischen Föderation entspricht. Moskau war nach 75 Jahren wieder da angekommen, wo die junge Sowjetunion angefangen hatte. Das Moskauer Sowjetimperium war eine Episode geblieben. Russland durchlebte nach 1992 eine chaotische Phase extremer Schwäche. Ein Machtvakuum füllt sich sofort wieder, indem andere Mächte hinein gezogen werden. Der zentral- und osteuropäische Raum war wieder offen für westliche Einflüsse. Die erste EU- Erweiterung fand 2004 statt (Estland Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien), die zweite 2007 (Rumänien und Bulgarien). Die NATO-Osterweiterung vollzog sich in bisher fünf Schritten von 1999 bis 2020. Mit dem Beitritt Finnlands reicht die NATO über das Baltikum und Polen bis unmittelbar an die Grenzen der Russischen Föderation heran.
Die Ukraine blieb umstritten. 2008 wurde ein NATO-Beitritt der Ukraine auf dem NATO-Gipfel in Bukarest abgelehnt, Deutschland und Frankreich waren dagegen. Damit griff Deutschland mit Frankreich erstmals seit 1945 wieder aktiv in die politische Gestaltung des zentral- und osteuropäischen Raumes ein. Die Ablehnung der Aufnahme der Ukraine in die NATO geschah mit Rücksichtnahme auf Russland, das den NATO-Erweiterungsprozess, das Heranrücken der NATO an seine Grenzen mit wachsender Kritik verfolgte. Sein politisches Gewicht in der NATO und seine herausragende wirtschaftliche Stellung in der EU verschafften Deutschland das Gewicht, gemeinsam mit Frankreich maßgeblich wieder die Geschicke in dieser Region zu bestimmen. Das war seit 1945 ein absolutes Novum und blieb nicht ohne Kritik und Widerspruch bei den betroffenen Staaten - und außerhalb. Aber Deutschland setzte sich mit Bundeskanzlerin Frau Merkel durch, Deutschland wurde ein entscheidendes Mitsprachrecht in Zentral- und Osteuropa eingeräumt. Deutschland war zurück.
Dabei blieb es auch 2014, als Putin die Krim besetzte und annektierte und seine Armee im Donbass in der Ostukraine Separatisten unterstützte. Mit den Abkommen von Minsk I und Minsk II versuchte Deutschland zusammen mit Frankreich, den Konflikt einzuhegen, indem es Russland mit einigen Mitspracherechten über die Ostukraine einbezog. Nord-Stream 2 war ein weiterer Versuch, Russland einzubinden: Wandel durch Handel sollte zur inneren Transformation Russlands beitragen und Russlands Interesse an konstanten Wirtschaftsbeziehungen mit Westeuropa befestigen. Schon 2014 und danach gab es skeptische Stimmen, die Zweifel äußerten, ob man Russland auf diese Weise dauerhaft in eine friedliche Welt würde einbinden können. Die Kritik verstummte nicht und wurde mit den Jahren immer lauter. Sie kam nicht nur aus Polen und den baltischen Staaten.
Es gab auch Gegenentwürfe zu dieser Politik (siehe Guntram von Schenck, „Ukraine, Europa und das deutsche nationale Interesse“, in: www.guntram-von-schenck.de.) Die Politik Deutschlands nach Putins Einmarsch in die Ukraine am 24. Febr. 2022 entsprach dann genau diesem Gegenentwurf ! 2014 aber setzte sich die deutsche Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel mit maßgeblicher Unterstützung von SPD-Außenminister Steinmeier mit der Annahme durch, Russland werde aus Eigeninteresse in die neue Ordnung hineinwachsen und sich einbinden lassen, d. h. sich letztlich zufrieden geben und auf zusätzliche Ansprüche verzichten. Das war eine Illusion mit schwerwiegenden Folgen. Putin folgte einer imperialen Agenda, die man bei realistischer Betrachtung früher hatte erkennen können und müssen, spätestens mit dem russischen Einmarsch in Georgien im Kaukasuskrieg 2008.
Die Fixierung der Politik auf Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war ein Fehler, der vermeidbar gewesen wäre. (Zu den spezifisch deutschen Gründen der Fehleinschätzung siehe unten V.) In Deutschland und im Westen vertraute man auf das Urteilsvermögen der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die als Kennerin Russlands mit besonderen Beziehungen zu Putin auftrat. Viele im Westen folgten ihr allzu gern, entsprach ihre Politik doch auch deren Wunschdenken und Interessen. Seit Putins Angriffskrieg am 24. Februar 2022 müssen die Ukrainer und der Westen mit den Folgen fertig werden. Die Hoffnung auf Konfliktlösungen (ohne Waffen!), die Frau Merkel in die neue deutsche Ostpolitik einbrachte, wurde von Putin krachend dementiert. Die Politik von Angela Merkel in Zentral- und Osteuropa endete im Desaster. Mächte handeln nach ihren Interessen, die sich in langen historischen Linien abzeichnen und sich nicht illusionär auflösen lassen.
III.
Historikerstreit um die Ukraine
Historikerstreit um die Ukraine
(Einschub)
Zur Interaktion zwischen Politik und Geschichtsschreibung.
Hat die Vergangenheit eine Zukunft? Es klingt paradox, ist es aber nicht. Nicht zu übersehen ist, dass in einer Reihe von Staaten Politiker, Ideologen und in ihrem Gefolge Historiker die Geschichte umdeuten und neu schreiben. Die Vergangenheit soll gegenwärtigen Interessen, Zielen, Orientierungen dienen. Aus der Fülle des historischen Materials wird Zweckdienliches zusammengestellt.
Narrative, große Erzählungen, insbesondere von Nationen, Imperien, unterdrückten und aufbegehrenden Völkern/Ethnien werden mit neuen historischen Inhalten gefüllt. Die heroischen Momente oder die Opferrolle werden herausgekehrt, einzelne Daten neu bewertet, vom Positiven ins Negative umgedeutet oder andersherum. Ereignisse werden aus der Fülle des historischen Materials als bedeutsam oder entscheidend herausgestellt, andere weggelassen. Mythen wurden aufgebaut, die wenig bis nichts mit der historischen Realität zu tun hatten.
Man könnte das als wenig relevant abtun oder als substanzloses Geschwätz beiseite lassen. Leider geht das nicht, wie wir aus der Entstehungsgeschichte der europäischen Nationen und der Entwicklung zum Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert wissen. Jede Nation schrieb ihr eigenes historisches Narrativ, das oft mit dem anderer im Widerspruch stand. Was wurde da nicht alles aus der Geschichte herausgelesen und zur Begründung nationaler oder anderer Ansprüche herangezogen?
Aus der Geschichte abgeleitete Vorstellungen suchten ihre Verwirklichung in der Politik. Blutige Auseinandersetzungen, Kriege waren die Folge. Besonders geschichtsmächtig wurden Mythen, die – vielfach unbewusst – das Denken und Handeln der Menschen prägten. Heroen wurden aufgebaut, Feindbilder gepflegt, Missionen proklamiert, Gebiets- und Herrschaftsansprüche begründet. So ist es bis heute: Russland und die Ukraine, China und Taiwan, Serbien und Kosovo sind die bekanntesten Beispiele in unserer Zeit.
In jüngster Zeit werden auch die ehemaligen Kolonialvölker und die Reste der Urbevölkerung in Nordamerika, Australien und Neuseeland davon erfasst. Sie erheben ihre Stimme, prangern Unterdrückung, Ausbeutung, Sklaverei und Völkermord an. Sie fordern Wiedereinsetzung in ihre Rechte und Wiedergutmachung. Was vormals englische, französische, spanische, niederländische, deutsche „ruhmreiche“ Kolonial- und Imperialgeschichte war, wird als verbrecherisch ins Gegenteil gekehrt und begründet Ansprüche für die Zukunft.
Die Vergangenheit wird zur Motivation, zum Ausgangspunkt und Auftrag für die Gestaltung der Zukunft. Friedrich Schlegel (1772 -1829) hat das zu Beginn der europäischen Historiographie auf den Punkt gebracht: „Der Historiker ist ein rückwärtsgewandter Prophet“. Man blickt in die Vergangenheit, um eine Zukunft zu entwerfen.
(Einschub Ende)
1) Putins Ukraine
Die Verankerung des Baltikums und Polens in der NATO und der EU war ein wesentlicher Faktor zur Stabilisierung des zentral- und osteuropäischen Raums. Offen blieb die Lage der Ukraine, die bis 2014 eine unentschiedene Neutralitätspolitik zwischen Moskau und dem Westen verfolgte. Nach der Maidan-Revolution im Winter 2013/2014 zeichnete sich eine klare Westorientierung der Ukraine ab, die Putin veranlasste, die Krim zu besetzen, zu annektieren und Separatisten in der Ostukraine zu unterstützen. Die Stabilität des Raums war erneut in Frage gestellt. Auch die Abkommen Minsk I und Minsk II konnten die Lage nicht beruhigen. Am 24. Februar 2022 versuchte Putin mit dem Einmarsch in die Ukraine die Frage der politischen Ausrichtung der Ukraine mit Gewalt zu lösen und die Ukraine in den Orbit Moskaus zurück zu zwingen.
Die Begründung suchte Putin in der Geschichte. Am 12. Juli 2021 veröffentlichte er als russischer Staatspräsident (!) einen Aufsatz „Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“, der auf der Website der russischen Regierung eingestellt wurde (deutsche Übersetzung in: Osteuropa 7/2021, S. 51-66). Er ist Teil des verpflichtenden Lehrplans für alle Angehörigen der russischen Streitkräfte. Er bestreitet der Ukraine u. a. das Existenzrecht auf einen eigenen Staat, dessen gegenwärtige Regierung von westlichen Mächten ferngesteuert werde. Die Ukrainer seien mit den Belarussen und Russen eine „dreieinige russische Nation“ mit einem gemeinsamen historischen Erbe und gemeinsamer Zukunft.
Aus der Geschichte, wie Putin sie sieht, entwickelt er einen Auftrag, eine historische Mission, die „russische Einheit“ wieder herzustellen. Er legitimiert damit die „Spezialoperation“ des Einmarsches in die Ukraine am 24. Februar 2022, die allerdings entgegen seines Plans in einem langen Krieg mündete. Ein imperialer Herrschaftsanspruch wird aus der Vergangenheit hergeleitet. Selbst ein langer, brutaler Krieg gegen das irregeleitete „Brudervolk“ der Ukrainer ist damit gerechtfertigt. Die Geschichte ruft Moskau dazu auf - so Putin - , den Glanz und die Größe der Vergangenheit wieder herzustellen.
Reale geopolitische Interessen spielen mit: ohne die Ukraine ist Russland eine Regionalmacht, mit der Ukraine potenziell eine Großmacht. Nimmt man den Vorwurf Putins hinzu, die NATO habe sich bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt und und wolle nun auch die Ukraine vereinnahmen, wird deutlich, dass Putin mehr vorschwebt. Er beansprucht eine Einflusssphäre, ein „droit de regard“, eine hegemoniale Stellung über die an Russland angrenzenden Länder. Er lebt in einer Vorstellungswelt, deren Rahmen die historische Sowjetunion und das Russische Zarenreich sind. Die Vergangenheit soll wieder Gegenwart und Zukunft werden.
Es geht Putin um die Revision der Auflösung der Sowjetunion Weihnachten 1991 (25. 12. 1991), um die Überwindung einer traumatischen Erinnerung als KGB-Agent in Dresden. Oft hat er betont, dass dies die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts sei. Der sang- und klanglose Untergang der Sowjetmacht hat ihn persönlich schwer getroffen. Er sieht es als seine persönliche Aufgabe an, diesen Untergang ungeschehen zu machen, zu revidieren. Er knüpft dabei an alte imperiale Traditionen des zaristischen Russlands an, was unter anderem im engen symbiotischen Verhältnis mit der orthodoxen Kirche Moskauer Observanz zum Ausdruck kommt.
2) Ein Nationales Narrativ für die Ukraine
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022, der eine Fortsetzung der militärischen Intervention nach der Maidan-Revolution 2014 war, ist der Westen bestrebt, die Ukraine mit Waffen militärisch und wirtschaftlich mit großzügigen Finanzhilfen zu unterstützen, damit sie dem russischen Anschlag auf seine politische und territoriale Souveränität widerstehen kann. Das ist 2022/2023 im Gange und die Aussichten sind gut, dass es auch gelingt. Es bedarf allerdings eines entschlossenen Durchhaltewillens und einer sorgfältigen Kalibrierung der Hilfen. Niemand im Westen hat Interesse an einer unkontrollierten Ausweitung des Konflikts.
Mindestens so wichtig wie die militärische und wirtschaftliche Hilfe ist die politische Unterstützung. Gemeint ist damit nicht die verbale politische Unterstützung aus dem westlichen Ausland, sondern die Hilfe beim Aufbau einer demokratischen, rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Identität als Ukraine bewusst ist. Das ist keineswegs selbstverständlich. Sicher hat die Abwehr des Angriffs Putins ein neues ukrainisches Nationalbewusstsein entstehen lassen und gestärkt. Aber das kann auch wieder zerbröseln, wenn die spätere ökonomische und demokratische, rechtsstaatliche Entwicklung nicht die verheißenen Früchte für die Menschen bringt. Nicht nur die allgegenwärtige Korruption, auch die großen Mentalitätsunterschiede zwischen dem mehrheitlich russischsprachig geprägten Osten und dem ukrainischsprachigen Westen der Ukraine spielen eine Rolle.
Gebraucht wird ein nationales Narrativ, das die Ukraine zusammenbindet, eine große Erzählung, die die unabhängige Existenz der Ukraine glaubwürdig in der Geschichte begründet. Denn sie wird von Putin, wie oben gezeigt, bestritten. Hier sind Historiker gefragt. Während auf deutscher Seite – soweit ich sehe - bisher weitgehend Stille herrscht, melden sich in den Medien vor allem aus dem angelsächsischen Raum Historiker, die sich in weitem Sinne dazu einen Namen gemacht haben: Ian Kershaw, Antony Beevor, Neal Ferguson, Stephen Kotkin und vor allem Timothy Snyder. Timothy Snyder (Autor des berühmten Buchs „Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin“, 2010) hat in einer im Herbst 2022 weltweit übertragenen 22-stündigen Yale-Vorlesung die Entstehung einer eigenständigen Ukraine und einer ukrainischen Identität historisch herausgearbeitet: „The Making of Modern Ukraine“ (abrufbar bei YouTube). Grandios und verdienstvoll!
Dennoch ist man an Raoul Giradet und seine Definition der „création historique“ (Schöpfungsakt der Geschichtsschreibung) erinnert: „Un phénomène de nature religieuse, quelque chose de très proche de la grâce...“ - „Ein Phänomen religiöser Natur, nahe bei der Gnade…“ (Zitat von Girardet aus Le Monde, 24. 09. 2013, S.18). Dergleichen spielte bei der Nationenbildung und dem wachsenden Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert eine große Rolle. Die Größe der Nation wurde z. B. erst als vermeintlich objektiv in die Geschichte hineingeschrieben, um hernach im Zirkelschluss aus der Geschichte hergeleitet zu werden. Die Gedankenwelt der handelnden Politiker und der öffentlichen Meinungen wurden in vorgezeichnete, interessengeleitete Bahnen gelenkt. Der Hobby-Historiker Putin machte mit seinem Aufsatz vom 12. Juni 2021 zur Ukraine nichts anderes.
Die Stimmen der oben erwähnten angelsächsischen Autoren haben mehr Gewicht. Dabei fällt auf, dass sie, vor allem Timothy Snyder, auf den ganzen zentral- und osteuropäischen Raum abheben. Das offenkundige Interesse bezieht sich nicht allein auf die Ukraine als gegenwärtiges und künftiges Subjekt der Politik mit eigener nationaler Identität, sondern nimmt die Stabilisierung des gesamten zentral- und osteuropäischen Raums ins Visier. Polen und die vergangenen und gegenwärtigen Beziehungen Polens zur Ukraine stehen im Mittelpunkt - was einen gelegentlichen Seitenblick auf das Baltikum nicht ausschließt. Großpolen-Litauen (1569 – 1795) und dessen mannigfaltige Beziehungen kultureller und politischer Art zu Kiew und zum ukrainischen Raum und eine aus der Geschichte weiterwirkende Zusammengehörigkeit scheinen als Leitlinien immer wieder durch. Ohne dass das Wort ausgesprochen wird, wird eine Art Schicksalsgemeinschaft gezeichnet, die sich aus der Geschichte des zentral- und osteuropäischen Raums herleitet.
Das kann man so machen: Das Interesse an einer Stabilisierung des Raums auf historischer Grundlage ist groß. Russland und Putin werden mit ihren Ansprüchen zurückgedrängt und auf die Grenzen der gegenwärtigen Russischen Föderation begrenzt. Die Kiewer Rus sind demzufolge etwas ganz anderes als die Moskauer Russen. Kiew und Lviv (Lemberg) sind anders als Moskau Teil der europäischen Geschichte mit Reformation, Renaissance und Aufklärung gewesen. Die Adelsrepublik Polen-Litauen habe maßgeblichen Einfluss ausgeübt. In Moskau habe hingegen die Herrschaft der Mongolen, die bis ins 16. Jahrhundert dauerte, ganz andere, autokratische Prägungen hinterlassen. Das ist natürlich eine sehr verkürzte Wiedergabe, ist aber der Grundtenor, der sich durch das ganze historische Gedankengebäude Timothy Snyders hindurchzieht. Die historische Rolle Polens-Litauens wird als möglicher Anknüpfungspunkt hervorgehoben. Moskau wird auf dem historischen Tableau Zentral- und Osteuropas an den Rand gedrängt, die Geschichte dementiert Putins Ansprüche.
Auch die historische deutsche Rolle in Zentral- und Osteuropa wird weitgehend ausgeblendet. Die angelsächsischen Historiker scheinen davon auszugehen, dass das deutsche Problem mit Potsdam 1945 ein für alle Mal gelöst ist. Mit dem Verlust der Ostprovinzen Schlesien, Ost-und Westpreußen und Teilen Pommerns, der Vertreibung der Deutschen aus dem zentral- und osteuropäischen Raum von Tschechien (Sudetenland) über die Bukowina und die Ukraine bis zur Krim hat sich das erledigt - so die Annahme. Eigentümlich ist die Eingrenzung von Deutschland auf Preußen-Deutschland als hätte es die deutsche Macht der Habsburger Monarchie in Wien nie gegeben. Aber der deutsche Kaiser saß jahrhundertelang in Wien und der deutsch-deutsche Dualismus zwischen Österreich und Preußen wurde erst 1866 im preußisch-österreichischen Krieg zugunsten Preußens entschieden. Die Habsburger Monarchie spielte im zentral- und osteuropäischen Raum über die Jahrhunderte eine große Rolle, jedenfalls eine weit größere als Preußen. Wenn es einen wichtigen politischen und kulturellen deutschen Einfluss in diesem Raum gab, dann ging er von Wien (und Prag) aus.
Die Lesart der Geschichte, wie sie von den oben erwähnten angelsächsischen Historikern verbreitet wird, hat ihre Lücken und Tücken. Wenn angesichts der sehr großzügigen Aufnahme ukrainischer Geflüchteter in Polen seit dem Angriff Putins auf das Nachbarland und der Militärhilfe Polens die polnisch-ukrainischen Beziehungen als geradezu beispielhaft gelten können, so steht doch im Hintergrund ein Grenzkonflikt, der nach dem Ersten Weltkrieg in einen offenen Krieg mündete. Ist Lemberg (Lviv), die große westukrainische Metropole nun ukrainisch oder polnisch? In Polen hört man Stimmen, die Lemberg als polnische Stadt reklamieren. Die Grenzziehungen, die Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen hat, mit denen er die (sowjetische) Ukraine um vorher polnische Gebiete großzügig erweitert und arrondiert hat, sind ebenso willkürlich wie andere Stalin-Grenzen. Ihre Legitimität anzuzweifeln ist nicht schwer.
IV.
Neue Sicherheitsarchitektur
Neue Sicherheitsarchitektur
1) Polen und ein neuer Cordon Sanitaire?
Die Wiederbelebung einer Art neuer Cordon Sanitaire zwischen Russland und Deutschland, die einigen angelsächsischen und polnischen Politikern und Historikern vorschwebt, sieht in Polen den Anker, um den sich dieser neue Cordon Sanitaire formieren soll. Politische Ansätze gibt es mit den sogenannten Bukarester Neun, ein Zusammenschluss osteuropäischer NATO-Staaten, und der Gruppe der Visegrád-Staaten, jeweils mit Polen in der Hauptrolle. Erinnerungen an 2003 werden wach, als das sogenannte neue Europa, inbesondere Polen, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak militärisch unterstützte. Großbritannien hat als Hauptverbündeter der USA mit der von Tony Blair betriebenen Formierung des neuen Europa die Europäische Union zutiefst gespalten. Denn das sogenannte alte Europa (Frankreich, Deutschland) hatte den Krieg entschieden abgelehnt. Der Irak-Krieg 2003 stürzte den Nahen und Mittleren Osten - voraussehbar - in ein Chaos, das bis heute nachwirkt.
Die Frage ist, ob Polen mittel- und langfristig die Anker-Rolle in Zentral- und Osteuropa übernehmen kann, die ihm visionär zugedacht wird? Polen ist heute – anders als in der Zwischenkriegszeit – ein ethnisch, religiös homogener Staat. Mit 40 Millionen Einwohnern ist Polen eine mittelgroße europäische Nation (Deutschland: 84 Mio, Frankreich: 67 Mio). Die Wirtschaft ist vor allem im Osten unterentwickelt, wenn auch stark wachsend – dank der üppigen Subventionen aus der EU. Trotzdem bleibt die wirtschaftliche Basis schmal. Politisch hat zumindest die gegenwärtige politische Führung Schwierigkeiten in die EU hinein zu wachsen, nicht nur in Sachen Rechtsstaatlichkeit weicht sie von etlichen europäischen Standards ab. Nicht ohne Grund hat die EU deshalb Fördergelder an Polen zurückgehalten.
Auffällig sind die engen Beziehungen Warschaus zu London, die u. a. mit der von Polen geteilten Skepsis gegenüber der EU zusammenhängen (Brexit). Bevor Polen z. B. die Forderung nach Reparationszahlungen von 1,3 Billionen Euro gegenüber Deutschland stellte, gab es Beratungen mit London etc. Ob sich die baltischen Staaten nach Warschau orientieren und sich von dort für eine Cordon Sanitaire Politik vereinnahmen lassen, scheint ungewiss. Eher werden sie sich letztlich nach Skandinavien und nach Deutschland orientieren, denn dort stehen nicht nur die stärkeren Bataillone, auch die Geschichte spricht dafür. Die Feindschaft gegenüber Russland ist tief in der polnischen Geschichte begründet und hat in der Wahrnehmung Außenstehender eine offen bellizistische Haltung gegenüber Moskau zur Folge.
Polen ein Staat von 40 Millionen, rückläufiger Demographie und schwacher Wirtschaft, ein Staat, der seinem größeren und mächtigeren Nachbarn Russland mit abgrundtiefer Feindseligkeit verbunden ist und sich gleichzeitig mit seinem ebenfalls mächtigeren Nachbarn Deutschland ständig anlegt, ist ein problematischer Anker, an dem sich ein neuer Cordon Sanitaire festmachen lässt. Das umso mehr, als sein künftiger enger Partner, die Ukraine, sich kaum von Warschau aus gängeln lassen wird, wenn sie einmal frei und souverän ist. Die Ukraine will/muss aus Gründen der Selbsterhaltung näher an die EU heranrücken, Polen will weiter davon weg. Hinzu kommen historische, ethnische und religiöse Unterschiede, die sich auswirken werden.
Wer derzeit angesichts der sehr großzügigen Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge symbiotische Verhältnisse zwischen Polen und der Ukrainern annimmt, übersieht, dass die Ukrainer orthodox und die Polen Katholiken sind. Ein ähnlicher religiöser Gegensatz hat in den jugoslawischen Auflösungskriegen zwischen Kroaten und Serben geradezu explosiv gewirkt, obwohl Serben und Kroaten die gleiche Sprache (serbo-kroatisch) sprechen, Ukrainer und Polen dagegen nicht. Wenn man schon in der Geschichte Beispiele ukrainisch-polnischer Gemeinsamkeiten sucht, sollte nicht übersehen werden, dass die Unterdrückung der Saporoger Kosaken, die seit dem 15. Jahrhundert weite Teile der heutigen Ukraine besiedelten, durch die polnische Adelsrepublik dazu geführt hat, dass diese sich im Vertrag von Perejaslaw 1654 unter den Schutz des russischen Zaren stellten. Seither erstreckte sich die Herrschaft der Moskauer Zaren in die Ukraine.
Wer sagt, dass bei den sehr national und nationalistisch denkenden Polen nicht alte Träume von einem Großpolen von der Ostsee bis ans Schwarze Meer wieder wach werden - mit entsprechenden Grenzverschiebungen. Voraussetzung wäre dann eine Ukraine, die dauerhaft zu schwach bleibt, um eigene nationale Interessen nachdrücklich zu verfolgen. Was Historiker, wie Timothy Snyder, begleitet vom Applaus interessierter Politiker, in der Geschichte lesen und woraus sie Projektionen für die Zukunft entstehen lassen, ist wichtig, soweit es die Widerstandskräfte in den betroffenen Ländern gegen Moskauer Übergriffe stärkt und die Unterstützung des Westens motiviert. Snyder und andere kämpfen für eine freie, unabhängige Ukraine. Das ist gut so!
Die Vision Snyders und anderer aber geht darüber hinaus. Entworfen wird ein politischer Raum, der stark genug ist, um sich gegen Moskau und seine panslawistischen Ambitionen zu behaupten, gleichzeitig aber auch deutsche Einflüsse ausschließt. Polen soll politischer Anker für diese Welt werden/sein. Es ist eine Zukunft, die aus dem Schatz der langen Geschichte des zentral- und osteuropäischen Raums entwickelt und in die Gegenwart und Zukunft gewissermaßen hochgeladen werden soll. In Polen findet diese Geschichtsdeutung begeisterte Anhänger. Auch in Deutschland dürfte es den einen oder anderen geben, der in der bequemen, aber obsoleten Position der alten Bonner Republik verharren und sich damit von jeglicher Verantwortung für diesen Raum enthoben fühlen dürfte. Das ist Wunschdenken.
2) Szenarien für ein Kriegsende
Es gibt zwei - halbwegs - plausible Szenarien, wie der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgehen könnte. Die erste ist, dass Russland aus der Ukraine zurückgedrängt und einem Frieden/Abkommen/Waffenstillstand (?) zustimmt, der Russlands Existenz in seinen Grenzen vor 2014 bestätigt (mit oder ohne die Krim sei dahingestellt.) Russland bleibt als eigenständiger Faktor der Politik erhalten, wird aber so eingegrenzt, dass es auf längere Frist nicht mehr expansiv EU-Grenzen bedrängen kann. Das zweite Szenario ist ein Zerfall Russlands, ähnlich dem der Sowjetunion 1991/1992. Wenn Russland militärisch, ökonomisch und politisch nach einem langen verlustreichen Krieg erschöpft ist, ist ein derartiger Zerfall angesichts der Völkervielfalt und der riesigen Ausdehnung des Landes keineswegs ausgeschlossen, sondern möglich. Voraussetzung für beide Szenarien ist, dass der Westen lange genug in seiner Unterstützung der Ukraine einig ist, durchhält und damit einen militärischen Sieg Russlands ausschließt.
Welches Szenario ist für den Westen das bessere? Zweifellos das erstere. Denn ein Zerfall Russlands würde nicht nur für Europa sondern weltweit Turbulenzen auslösen, die kaum kontrollierbar wären. Es ist nicht nur das riesige russische Atomwaffenarsenal, dessen Kontrolle schier unlösbare Probleme bereiten würde. Es kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass die Moskauer Führung in einem Aufbäumen gegen den drohenden Untergang Atomwaffen einsetzen würde. Jedenfalls sieht die russische Militärdoktrin das vor. Was wäre mit China? Sibirien ist riesig und leer. Würde es Auflösungskriege wie im früheren Jugoslawien geben etc.? Der Westen, USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, sie haben ein Interesse am Erhalt eines integralen, wenn auch auf lange Frist geschwächten Russlands. Entsprechend muss die Hilfestellung für die Ukraine dosiert und richtig eingesetzt werden. Eine komplette militärische Niederlage Russlands mit der Auflösung der Russischen Föderation kann nicht im Interesse des Westens sein.
Nicht alle sind im „Westen“ freilich dieser Meinung. Es sind die Grenzanrainer Russlands von Finnland, über das Baltikum, Polen, die Ukraine und Moldawien, die aus Eigeninteresse an einer nicht mehr umkehrbaren, dauerhaften Schwächung Russlands ein Interesse haben. Wer garantiert ihnen, dass Moskau sich nach einer Erholungsphase (von 10, 15, 20 Jahren ?) nicht wieder auf die alten imperialen Ziele zurückkommt? Besonders dann, wenn sich die USA im Hinblick auf die Rivalität zu China und den damit lauernden Konflikten aus dem zentral- und osteuropäischen Raum zurückziehen werden/müssen. Wäre es da nicht besser, Russland, sozusagen für immer (!) als Störfaktor auszuschalten, solange man noch die Unterstützung der USA hat? Diese Interessen, die durchaus nachvollziehbar sind, zeigen die Risse in der westlichen Allianz auf. Die aufgeregten Vorwürfe der Polen und Balten, die sich wegen angeblich unzureichender Hilfeleistung vor allem an Deutschland richten, machen das deutlich.
Zögerlich und eher widerwillig, mehr nolens als volens, kommt Deutschland damit sicherheitspolitisch und auch militärisch wieder nach Zentral- und Osteuropa zurück. Die Erinnerungen an die blutigen Schlachten in den zwei Weltkriegen im Osten sind in der älteren Generation in Deutschland noch wach und schrecken ab. Es wirkt auch nach, dass der Westen, England und Frankreich, Berlin reflexartig immer dann in den Rücken fielen, wenn Deutschland im Osten aus ihrer Sicht zu „erfolgreich“ schien und zu mächtig wurde. Stets wurden Gegenpositionen aufgebaut und auch Krieg geführt, wie die Geschichte zeigt. (Die Welt ist heute im 21.Jahrhundert allerdings eine andere und die alten Reflexe eigentlich obsolet.)
Nicht minder wichtig ist, dass sich die (West-) Deutschen bis 1990 in der gemütlichen, alten Bonner Republik eingerrichtet hatten und vor internationaler Verantwortung zurückscheuten. Das wiedervereinigte Deutschland übernahm diese Einstellung und sah in der weltpolitischen Phase der absoluten US-Dominanz keine Notwendigkeit einer Änderung. Man wähnte sich in einer Art Friedensparadies, von Freunden umgeben!. Eigenverantwortliche Sicherheitspolitik spielte keine Rolle, die sträfliche Vernachlässigung des Militärs, der Bundeswehr, zeigt das eindrücklich. Nach dem Einmarsch Putins in die Ukraine war besonders im Ausland die Perplexität groß, als offenbar wurde, dass Deutschland keine Armee hatte, die diesen Namen verdient. (Im Ernstfall Munition z. B. nur für zwei Tage.) Die deutschen Illusionen sind mit dem Einmarsch Putins in die Ukraine zerplatzt.
Die sicherheitspolitische Ordnung des zentral- und osteuropäischen Raums muss Deutschland nicht allein stemmen, es ist Mitglied der NATO und der EU. Deutschland ist dort in einer wichtigen und insbesondere für den zentral- und osteuropäischen Raum mitentscheidenden Position. Allerdings wird es nicht umhin kommen, militärisch den gewichtigsten Beitrag zu leisten und die proklamierte Führungsrolle materiell auszufüllen. Auch müssen wir uns darauf einstellen, dass die USA wegen des Konflikts mit China oder aus anderen Gründen (Trump ante portas o.ä.) ihr Engagement erheblich reduzieren könnten/müssen. Die Lücken müssen gegebenfalls so schnell wie möglich geschlossen werden.
Eingebunden in der EU und der NATO kann Deutschland Entscheidungen, idealiter gemeinsam mit Frankreich, dem anderen europäischen Schwergewicht und engen Partner, in seinem Sinne beeinflussen. In Deutschlands Interesse, ebenso wie im Interesse des Westens, liegt nicht die dauerhafte Auflösung/Zerstörung Russlands, sondern dessen Eingrenzung und dauerhafte Eindämmung. Heißsporne wie in Polen mögen das anders sehen. Die NATO und Deutschland haben kein Interesse an einem solchen zerstörerischen Konflikt mit Russland und dürfen sich auch nicht hineinziehen lassen. Manchmal kann man sich freilich des Eindrucks nicht erwehren, dass Polen die NATO irgendwie in den Konflikt mit Russland hineinzuziehen versucht. Polen wäre gut beraten, schon den Anschein zu vermeiden.
3) Ostpreußen/Königsberg/Kaliningrad
Folgt man mit einer deutschen Perspektive dem Beispiel des politisch denkenden Historikers Timothy Snyder (und anderer) kommen die russische Enklave Kaliningrad/Königsberg und Ostpreußen in den Blick.
Stalin hat 1945 den nördlichen Teil Ostpreußens um Königsberg der Sowjetunion einverleibt und annektiert. Nach der Auflösung der Sowjetunion liegt diese russische Enklave isoliert mitten in der Europäischen Union - jedenfalls solange Polen nicht aus der EU austritt. Es ist nur durch eine Bahn- und Schiffsverbindungen mit Russland verbunden und ist für Moskau ökonomisch kein Gewinn sondern eine Last. Für Teile Zentral- und Osteuropas und Deutschland stellt die Enklave sicherheitspolitisch eine Bedrohung dar. Von Königsberg nach Berlin sind es nur ca. 750 km, Raketen, Marschflugkörper sind auf diese Distanz kaum abzufangen. Für Russland hat Ostpreußen keinen sicherheitspolitischen Nutzen, wenn es nach dem erfolglosen Angriff auf die Ukraine in seine anerkannten Grenzen zurückgekehrt ist.
Im Verlauf der deutschen Wiedervereinigung und der Auflösung der Sowjetunion sind von Moskau bereits einmal die Fühler ausgestreckt und Gespräche über Ostpreußen angeboten worden (Spiegel online vom 21. 05. 2010). Im Umfeld des deutschen Einigungsprozesses griff die Bundesregierung diese Initiativen nicht auf, um den Prozess der Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht zu stören. Im Zusammenhang mit den Kämpfen um die Ukraine könnte der Zeitpunkt gekommen sein, auf diese Ansätze zurückkommen. Eine beherzt zupackende Politik wie die von Helmut Kohl 1989/1990 ist angesagt.
Eine Rückkehr Ostpreußens in die deutsche Staatlichkeit ist ein wesentlicher Baustein für die Sicherheitsarchitektur Zentral- und Osteuropas, indem sie destabilisierende russische Bedrohungen aus dieser exponierten Region eliminiert. Sie entlastet andererseits Russland ökonomisch und militärisch, indem es exponierte Außenposten des sowjetischen Imperiums aus Stalins Zeiten aufgibt. Deutschland kann mit Ostpreußen seine historisch angestammte Schutzfunktion für das Baltikum wieder erfüllen und Schutzzusagen gegenüber den baltischen Staaten dank der geographischen Lage Ostpreußens effektiv einhalten.
Deutschland ist dann wieder auf seinen über acht Jahrhunderte angestammten Platz im Baltikum zurückgekehrt. Die Geburts- und Wirkungsstätte von Immanuel Kant ist wieder deutsch. Seine Vision eines europäischen Völkerbundes als ewigem Friedensgaranten auf der Grundlage der allgemeinen Anerkennung der Menschenrechte hat Kant 1795 in der Schrift „Zum ewigen Frieden“ in Königsberg entwickelt. Das deutsche Königsberg: ein Leuchtturm der Menschenrechte und des Friedens! Allein das ist ein Wert an sich und entspricht der Ordnung Europas in seiner „longue durée“, seiner langen Dauer (Fernand Braudel).
V.
Deutsche Fixierung auf Russland
Deutsche Fixierung auf Russland
Voltaire: Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.
In den Staaten, die vormals zur Sowjetunion oder zum Warschauer Pakt gehörten, werden Denkmale der Roten Armee an abgelegene Orte versetzt, abgeräumt oder schlichtweg zerstört. Seit dem Einmarsch Putins in die Ukraine am 24. Februar 2022 gibt es eine ganze Welle von Denkmalabrissen, in der die Wut über die imperiale Politik Russlands zum Ausdruck kommt. Das gilt nicht nur für die Ukraine, sondern für den ganzen früheren Machtbereich Moskaus. Die sogenannte Befreiung durch die Rote Armee, die diese Denkmale symbolisieren sollen, wurde dort vielfach als Besetzung durch die Sowjetmacht empfunden, gegen die sie sich 1944/1945 und danach im Baltikum und der Westukraine verzweifelt gewehrt haben.
In Deutschland gibt es, vor allem auf dem Territorium der früheren DDR, überschlägig rund tausend Denkmale, die an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg erinnern. Dabei wird an den opferreichen Kampf der Rotarmisten gegen die Wehrmacht und die Herrschaft der Nationalsozialisten erinnert. Einige Denkmale sind monumental, wie zum Beispiel jenes in Berlin-Treptow. Oder sie stehen an symbolträchtigen Orten, wie der sowjetische Panzer in Berlin unweit des Brandenburger Tors an der „Straße des 17. Juni“. Bisher wurden keine Rufe laut, diese Denkmale abzuräumen, zu versetzen oder zu zerstören. (Es gibt im Übrigen eine vertragliche Verpflichtung der deutschen Regierung, diese Denkmale zu erhalten und zu pflegen, die sie im Zuge der Wiedervereinigung eingegangen ist.)
Warum ist die Reaktion in Deutschland, insbesondere auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, nicht mit der im übrigen früheren sowjetischen Machtbereich vergleichbar? Das verwundert, weil sich die Bilder und Berichte vom Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine mit den Bildern vom Vormarsch der Roten Armee in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 gleichen. Sie rufen massive Erinnerungen an die Entnazifizierung und Befreiung 1945 wach: Willkürliche Verhaftungen, Plünderungen und Ermordungen, Massenvergewaltigungen, Vertreibungen, Massenverschleppungen etc. Der harte Griff Moskaus hat im Lauf der Jahrzehnte mithilfe des eingesetzten SED-Regimes gleichwohl dazu geführt, dass in Teilen der DDR-Bevölkerung die Sowjetunion/Russland als Befreier und Wohltäter angesehen wurden. Bis heute sind Nachwirkungen in Form einer nostalgischen Anhänglichkeit an Russland auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu beobachten.
Die historische Erfahrung zeigt, dass Bevölkerungen auf dem Tiefpunkt eines verlorenen Krieges zur Zerknirschung, Reue und politischer Selbstaufgabe neigen. In dieser Art Chaos und Vakuum kann der Sieger seine Vorstellungen einpflanzen und, wenn er klug ist, gleichzeitig einen ihm genehmen Weg aus der Misere weisen. Die Niederlage Deutschlands war 1945 total. Moskau zeigte einen Ausweg, indem es die DDR zur Mitsiegerin im antifaschistischen Kampf, zum Mitkämpfer um die Völkerbefreiung vom Joch des Kapitalismus, Imperialismus und Faschismus machte. Das war in dieser Form natürlich Unsinn, aber es entlastete die Deutschen der DDR von der Mitverantwortung für den verlorenen Krieg und dessen Folgen. Es erlaubte ihnen zumindest dem Anschein nach, Mitstreiter in dem - von Karl Marx (einem Deutschen) ausgerufenen - ehrenwerten antikapitalistischen, antiimperialistischen und antifaschistischen Kampf zu sein.
Im Westen Deutschlands verlief die Entwicklung der Deutung der Geschichte von der totalen Niederlage 1945 hin zur Befreiung anders, aber ebenfalls im Widerspruch zu dem, was tatsächlich geschehen war: Deutschland wurde gegen erbitterten Widerstand 1945 erobert, 2,5 Millionen deutsche Soldaten sind in den Abwehrschlachten des letzten Kriegsjahres gefallen, genauso viele wie in den Kriegsjahren zuvor. Deutschland wurde 1945 besetzt, um ein weiteres Viertel seines Staatsgebiets amputiert und geteilt in BRD und DDR. Es kann hier nicht alles aufgelistet werden, was der Befreiungsrede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker widerspricht. Dazu Guntram von Schenck, „8. Mai 1945: Tag der Befreiung? Anmerkungen zur Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 zum Kriegsende 1945“, in: Schriften zur Politik und Geschichte, Radolfzell 2013, S. 195 – 220 u. www.guntram-von-schenck.de:
Auszug aus dem o. g. Text:"Die Katastrophe von 1945 konnte nicht völlig in einem Befreiungsgedanken aufgehen. Tief drinnen war das Bewusstsein der vernichtenden Niederlage und das Ausgeliefertsein an die Siieger noch immer ins Gedächtnis eingeschrieben (...) Wer von Befreiung spricht, bedankt sich bei den Siegern; denn die Deutschen haben sich nicht selbst befreit. Sie haben keinen nennenswerten Beitrag zu ihrer Befreiung geleistet, sie haben sich im Gegenteil bis zum Schluss gewehrt. (...) Hinter der Rhetorik steht (...) die Verwechslung von gewaltsamer Bekehrung mit Befreiung. Das (...) ist eine Form der Selbstentmündigung, die die Befreiung von Dritten erwartet, es ist die Preisgabe des eigenen freien Willens zur Freiheit, die erkämpft werden musss. Es ist die Absage an die Eigenverantwortlichkeit".
In Westdeutschland wurde die Lesart der Westalliierten zur Vorgeschichte, Verlauf und Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkriegs weitgehend übernommen. Man kann das – wohlwollend - als weitgehend geglückte Vergangenheitsbewältigung bezeichnen, aber durchaus auch anders, kritisch sehen. Die hochproblematische These der Befreiung v. Weizsäckers wurde in (West-) Deutschland begeistert aufgenommen, entlastete sie doch große Teile der Bevölkerung von der Verantwortung für eine schwierige Vergangenheit. Als Ausweg aus der Misere der totalen Niederlage, aus dem Tiefpunkt von 1945, wurde den Westdeutschen das Aufgehen in Europa, der europäische Einigungsprozess aufgezeigt. Es war ein Weg, den sie gerne einschlugen, zumal er Wohlstand und neues Ansehen mit sich brachte. Deutsches Nationalgefühl und nationale Interessen traten zurück, ebenso das Denken und Handeln in diesen Kategorien.
Wer tatsächlich glaubt, 1945 befreit worden zu sein, hat Probleme, allzu kritisch seinen Befreiern entgegen zu treten. Das gilt ganz besonders für Russland, das 1992 nicht nur aus deutscher Sicht das Erbe der Sowjetunion antrat. Die Sowjetunion hatte die Hauptlast im Krieg gegen Deutschland getragen. In der älteren deutschen Bevölkerung ist durchaus noch präsent, wie deutsche Panzer bis an die Tore Moskaus und an die Wolga bis Stalingrad vordrangen, ehe die Wehrmacht unter dem Druck des Zweifrontenkriegs bis zur bedingungslosen Kapitulation 1945 zurück geschlagen wurde. Die Umdeutung der deutschen Niederlage 1945 als Befreiung, insbesondere durch die Rote Armee behindert die deutsche Politik und führt zu falschen Entscheidungen wie Minsk I, Minsk II und Nord-Stream 2. Die Rücksichtnahme spielt dem russischen Imperialismus Putins in die Karten.
Die falsche Lesart der deutschen Geschichte, das Narrativ von der Befreiung 1945, steht einer realistischen deutschen Außenpolitik im Wege und hat fatale Fehlentscheidungen zur Folge. Die offizielle deutsche Erinnerungspolitik verschärft das Problem.
Henry Kissinger, Schlusswort seines Buches „Leadership“, Penguin Press 2022, S.415: "No society can remain great if it loses faith in itself or if it systematically impugns its self-perception". (Keine Gesellschaft kann bedeutend bleiben wenn sie den Glauben an sich verliert oder ihr Selbstverständnis systematisch in Frage stellt.)
Guntram von Schenck, Februar 2023
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