Guntram von Schenck
November 2020



Deutsche Militärtradition:
Wehrmacht - Erinnerungskultur - Bundeswehr

Das sprachlose Plädoyer der Toten



Der letzte Wehrmachtsbericht vom 9. Mai 1945 provoziert viele Fragen und Kommentare. Auszug:


"Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen.

Der deutsche Soldat hat, getreu seinem Eid, im höchsten Einsatz für sein Volk für immer Unvergeßliches geleistet. Die Heimat hat ihn bis zuletzt mit allen Kräften unter schwersten Opfern unterstützt. Die einmalige Leistung von Front und Heimat wird in einem späteren gerechten Urteil der Geschichte ihre endgültige Würdigung finden.

Den Leistungen und Opfern der deutschen Soldaten zu Wasser, zu Lande und in der der Luft wird auch der Gegner die Achtung nicht versagen. Jeder Soldat kann deshalb die Waffen aufrecht und stolz aus der Hand legen und in den schwersten Stunden unserer Geschichte tapfer und zuversichtlich an die Arbeit gehen für das ewige Leben unseres Volkes.

Die Wehrmacht gedenkt in dieser schweren Stunde ihrer vor dem Feind gebliebenen Kameraden. Die Toten verpflichten zu bedingungsloser Treue, zu Gehorsam und Disziplin gegenüber dem aus zahllosen Wunden blutenden Vaterland“.





Mit dem Gedenken an die fünfeinhalb Millionen im Zweiten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten greifen wir eine der aufgeworfenen Fragen auf. Wie gehen wir 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs damit um? Wollen wir die gefallenen deutschen Soldaten als „verfemt, verscharrt, vergessen“ beschweigen, wie es heute vielfach geschieht? Oder gibt der zeitliche Abstand einen neuen Blick frei. Er hätte Relevanz für die Tradition der Bundeswehr.



Fünfeinhalb Millionen deutsche Soldaten sind als Angehörige der Wehrmacht 1939-1945 gefallen. Kaum eine deutsche Familie, die davon nicht betroffen wäre. Es handelt sich um unsere Väter, Großväter, Verwandte, Freunde und Bekannte. Mit Siegfried Kracauer stellen wir die Frage, „ob mit zunehmendem Alter nicht unsere Empfänglichkeit zunimmt für das sprachlose Plädoyer der Toten?" Wir fügen hinzu: unserer Toten, von denen die Hälfte im Abwehrkampf des letzten Kriegsjahrs gefallen ist. Wir haben in Deutschland unter anderem eine fest verankerte Erinnerungskultur zum Holocaust, den Opfern der Euthanasie und der Sinti und Roma. Den Tod der Millionen deutscher Soldaten aber umgibt ein betretenes Schweigen, ein verlegenes Wegschauen. 75 Jahre nach Kriegsende wissen noch immer nicht, ob sie Opfer, Täter, Verbrecher oder Helden waren?



Die Klärung hat Auswirkungen auf die Tradition der Bundeswehr und deren Verhältnis zur Wehrmacht. Erinnerungskultur ist Erinnerungsarbeit. Sie ist die Brücke zwischen damals und heute, Zweitem Weltkrieg und Gegenwart, zwischen Wehrmacht und Bundeswehr. Es ist nicht gleichgültig, welche Erinnerungen wir festhalten, pflegen und in Ehren halten. Sie prägen unser Bewusstsein über Generationen hinweg, sie schaffen Kontinuität und sind identitätsstiftend. Sie werden zu Trägern einer Tradition, die in der Vergangenheit wurzelt und in die Zukunft weist. Mit Blick auf die fünfeinhalb Millionen gefallenen deutschen Soldaten stehen wir vor einer Erinnerungslücke, einer Art Amnesie. Die Lücke muss geschlossen werden.





Waren die Soldaten der Wehrmacht Opfer?



Am deutschen Adel kann beispielhaft für die Wehrmachtsangehörigen die „Opferrolle“ im Zweiten Weltkrieg überprüft werden. Der Adel hat über Jahrhunderte in Deutschland Heerführer und Offiziere gestellt. Von Generation zu Generation hatte sich eine Militärtradition ausgebildet, die nicht selten mit den Kreuzzügen begann und bis ins 20. Jahrhundert reichte. Sie prägten das Offizierskorps im preußisch-deutschen Heer bis zur Reichswehr nach dem Ersten Weltkrieg. Erst in der Wehrmacht, besonders im Krieg seit 1939 stammten die meisten Offiziere aus anderen Gesellschaftsschichten.



Darauf bezieht sich – stellvertretend für andere Adelsverbände – die Althessische Ritterschaft, die eine Gedenktafel mit der Liste der großen Verluste ihrer Familien 1939-1945 den 2017 veröffentlichten, (z.T. fehlerhaften) genealogischen Stammtafeln voranstellt. Die Althessische Ritterschaft ist ein Zusammenschluss hessischer Adelsfamilien mit dem Ziel der Traditionspflege. Die mit Geburts- und Todesdaten auf der Gedenktafel genannten 92 Personen waren bis auf wenige Ausnahmen Angehörige der deutschen Wehrmacht. Die Verlustzahlen waren, bezogen auf die relativ kleine Personengruppe des althessischen Adels, weit überdurchschnittlich. Die Gedenktafel benennt sie alle als „Opfer des Zweiten Weltkriegs“.



Opfer ist, wer ohne eigenes Zutun unschuldig zu Schaden kommt. Täter ist, wer Schaden verursacht. (Die strafrechtliche Diskussion um Täter, die meist selbst wieder Opfer der Umstände, z. B. unglückliche Kindheit o. ä. wurden, gehört nicht hierher.) In Kriegszeiten wurden bis 1945 gemeinhin an Kriegshandlungen unbeteiligte Zivilpersonen als Opfer, Angehörige des Militärs hingegen als Kriegsversehrte und Gefallene bezeichnet. In den meisten Ländern ist das bis heute üblich und Kriegsteilnehmer werden als Veteranen oder Gefallene geehrt, in den USA sogar als Helden. Das galt gleichfalls für Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, man denke an die monumentalen Kriegerdenkmale, die überall errichtet wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das anders. Im Selbstverständnis nicht nur des Adels wurden die Toten zu „Opfern“.



Auf dem Selbstverständnis, im katastrophal verlorenen Zweiten Weltkrieg sinnlos geopfert oder von einer verantwortungslosen, verbrecherischen Führung missbraucht worden zu sein, lässt sich schwerlich eine in der Gesellschaft verankerte deutsche Militärtradition aufbauen und fortführen. Als Folge dieser Extremerfahrung haben sich z. B. viele Familien, in denen der Wehrdienst bis dahin eine Selbstverständlichkeit war, vom Militär abgewandt. Die tiefsitzenden Skepsis der Deutschen gegenüber dem Einsatz von Militär, dem Einsatz von Gewalt in internationalen Auseinandersetzungen ist nicht zuletzt Folge der Opfermentalität, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Die Skepsis geht teilweise so weit, dass sogar die Vorsorge gegenüber einem Angriff auf das eigene Land, die schlichte Notwehr, auf Ablehnung stößt.



Der Rückzug in die Opferrolle ist nicht folgenlos und führt zu einer Haltung des „ohne mich“ zum Militär. Mit dieser Zurückhaltung steht Deutschland allerdings allein da und wird international zum Problem. Die Weigerung, sicherheitspolitisch international Verantwortung als wirtschaftsstarke Mittelmacht zu übernehmen, untergräbt das Vertrauen in die deutsche Politik. Präsident Trump ist nicht der erste US-Präsident, der von Deutschland lautstark einen größeren militärischen Beitrag zur Absicherung der Interessen des Westens einforderte, künftige Präsidenten werden dasselbe tun. Auch von Polen wurde die deutsche militärische Abstinenz als Problem bezeichnet (Sikorski). In Paris und in London schüttelt man über Berlin den Kopf. Das Lamentieren in der Opferrolle, wie es die Althessische Ritterschaft in ihrer Publikation der Stammtafeln 2017 tut, ist 75 Jahre nach Kriegsende verantwortungslos.





Täter?



Die Opferrolle entspricht auch nicht den Tatsachen. Die Wehrmacht hat von Beginn bis zum Ende des Krieges tapfer und trotz berechtigter Einzelkritiken unter den gegebenen Umständen militärisch exzellent gekämpft. Das gesamte Kriegsgeschehen kann hier nicht aufgerollt werden. Es muss genügen, einige ausländische Autoren zu zitieren, die zu einem deutlich anderen Urteil als die stellvertretend für die deutsche Gesellschaft genannte Althessische Ritterschaft gekommen sind:



Raymond Aron, französischer Philosoph, Politikwissenschaftler und Publizist, folgte de Gaulle nach Frankreichs Niederlage 1940 nach London und gründete dort die Zeitschrift „France libre“. Man wird ihm schwerlich eine wohlwollende Einstellung gegenüber der Wehrmacht zuschreiben können. Und doch schreibt er:

„Im 19. Jahrhundert wird das vom Preußen der Hohenzollern geeinte Deutschland zur ersten Macht auf dem Kontinent. Seine Armee blieb bis 1945 die beste Europas und der Welt. Sie trug im Lauf der beiden Kriege des 20. Jahrhunderts glänzende Siege davon“ (R. Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, Propyläen 1980, S. 348 & passim).



Martin van Crefeld, israelischer Militärexperte, von daher einer prodeutschen Haltung eher unverdächtig:

„Das deutsche Heer war eine vorzügliche Kampforganisation. Im Hinblick auf Moral, Elan, Gruppenzusammenhalt und Elastizität war ihm wahrscheinlich unter den Armeen des zwanzigsten Jahrhunderts keine ebenbürtig“ (M. v. Crefeld, Kampfkraft. Militärische Organisation und Leistung der deutschen und amerikanischen Armee 1939-1945, Ares Verlag, Graz 2005, 4. Aufl.,S. 189).





Verteidigung und Abwehrkampf bis zum Schluss



In den Abwehrkämpfen des letzten Kriegsjahres vom Sommer 1944 bis Mai 1945 sind 2,5 Millione deutsche Soldaten gefallen, das sind mehr als im ganzen Ersten Weltkrieg (2,1 Millionen).



Die deutsche Verteidigung gegen die erdrückende Übermacht der feindlichen Armeen zog sich von Juni/Juli 1944 bis zum bitteren Ende April/Mai 1945 hin. Der Widerstand markiert einen neuen Abschnitt des Kriegsgeschehens. Die Verteidigung wurde mit schwersten Verlusten erkauft: die Hälfte der deutschen Verluste des Zweiten Weltkriegs mit z. T. horrenden Zahlen von täglich bis zu 20.000 Mann fiel in diese Zeit. Mit 2,5 Millionen Toten überstiegen die Verluste der Wehrmacht im letzten Kriegsjahr die Gesamtzahl aller gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs (2,1 Millionen). Die Verteidigung der Heimat und die Ablehnung des alliierten Kriegsziels der "bedingungslosen Kapitulation Deutschlands" wurden entscheidend für die Aufbietung der letzten Kräfte. Sie rechtfertigten die Aufrechterhaltung der deutschen Kriegsmaschinerie in den Augen deutscher Patrioten. Dazu bedurfte es keiner Gräuelpropaganda, die es natürlich auch gab, z. B. Nemmersdorf/Ostpreußen.



Jean Rudolf von Salis, Zeitzeuge und Schweizer Historiker, von dem die bekannt-berühmten kritischen Kommentare des Schweizer Rundfunks (Radio Beromünster) während des Zweiten Weltkriegs stammen, notierte am 22. Oktober 1944:

„...Der Geschichte bleibt vorbehalten, mit Kühle und Distanz ein gerechtes Urteil über die militärischen Leistungen der Deutschen in der schwierigsten Phase des europäischen Krieges zu fällen. Wenn je, so hat gerade in dieser zweitletzten Phase des Krieges – als die man wohl den vergangenen Sommer bewerten muss – das deutsche Volk bewiesen, dass es in erster Linie ein militärisches und kriegerisches Volk ist, das auch unter ungünstigsten Umständen mit Disziplin und ohne Opfer zu scheuen weiterkämpft. So wenig die Deutschen in ihrem Leben freien Bürgergeist und Zivilcourage gegenüber einer anmaßenden Obrigkeit kennen, so sehr sind sie im Militär zu größtem Mut und zur Fortsetzung des Kampfes bereit, wenn es ihnen befohlen wird. Das Ergebnis ist, dass zwar Deutschland in furchtbare Leiden gestürzt wurde und noch wird, dass es aber an seinen Grenzen noch einmal unter Aufbietung der letzten Kräfte Widerstand leistet“ (J. R. von Salis, Weltchronik 1939-1945, Zürich 1966, S. 454).



Es wurde entschlossen weiter gekämpft: nicht nur an der Ostfront, wo an der Oder eine letzte Verteidigungslinie aufgebaut wurde. Dort wurde an den Seelower Höhen unter dem Kommando von General Heinrici der sowjetische Durchbruch noch einmal aufgehalten. Breslau wurde im erbitterten Häuserkampf verteidigt. Auch im Westen u. a. in den Ardennen, im Elsass, wo jedes Dorf verteidigt wurde , im Hürtgenwald bei Aachen, wo die USA schwere Verluste erlitten. Beim Kampf um Berlin von Mitte bis Ende April 1945 lieferte die Wehrmacht noch einmal eine letzte Schlacht. Die Rote Armee hatte nach eigenen Angaben Verluste von 306 000 Mann. Das war kein kläglicher Untergang, wie z. B. die viel gezeigten Bilder von Hitler mit seinen Hitlerjungen als letztem Aufgebot glauben lassen. (Zum Vergleich: die Briten hatten in der Somme-Schlacht im Ersten Weltkrieg, die ein halbes Jahr von Juli bis Dezember 1916 tobte, 420 000 Mann Verluste.) Teile des Reichstags wurden Anfang Mai 1945 noch verteidigt, als Hitler bereits Selbstmord begangen und die Rote Armee auf dem Reichstag die Siegesfahne gehisst hatte.



Helmut Schmidt, der spätere Bundeskanzler, wurde noch im April 1945 in der Lüneburger Heide verwundet, Richard von Weizsäcker, der spätere Bundespräsident, ebenfalls im April 1945 in Ostpreußen. Sie waren aktive Offiziere, die bis wenige Wochen vor Kriegsende weiter kämpften. Beide wird man schwerlich als irregeleitete NS-Durchhalte-Fanatiker bezeichnen wollen. Man kann diese Haltung, wie gesagt, als "unsinnig" bezeichnen, da der Krieg verloren war. (Verloren war er allerdings bereits im November/Dezember 1941, als die Sowjetunion nicht überrannt und Moskau nicht eingenommen werden konnte; denn ein Zweifrontenkrieg konnte nicht durchgehalten, geschweige denn gewonnen werden.)



[Einschub: Im Übrigen war diese Haltung Teil des verpflichtenden Ehrenkodexes der deutschen Armeen im 18./19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als französische Truppen 1800 die württembergische Festung Hohentwiel zur Übergabe aufforderten, und der Kommandant, der nur rund 70 invalide, alte Männer aufbieten konnte, kapitulierte, wurde er zur Strafe von den Württembergern in der Festung Hohenasperg eingekerkert und hat bis zu seinem Tod unter härtesten Bedingungen (z. B. kein Buch o. ä.) nie wieder das Tageslicht erblickt.



Wer ohne Zustimmung der Obrigkeit kapitulierte, wurde hart bestraft, auch wenn die Kapitulation in der gegebenen Lage augenscheinlich das einzig Sinnvolle war. In unserer Zeit ist so etwas kaum nachvollziehbar. Wir sollten uns aber hüten, die damalige Haltung nach unseren heutigen Ansichten zu beurteilen und Maßstäbe anzulegen, die in der Vergangenheit andere waren. Überdies fühlten sich die Franzosen nicht an die dem Kommandanten gegebenen Zusagen gebunden und haben die Festung Hohentwiel gesprengt.]



Es ist festzuhalten, dass das Durchhalten bis April/Mai 1945 den damaligen, nicht nur deutschen Auffassungen entsprach und - so gut es eben ging - von den deutschen Streitkräften, insbesondere dem Offizierskorps, mitgetragen wurde. Was zählt ist die aktive Beteiligung an der Fortsetzung des Krieges bis zum Schluss. (Zum 20. Juli 1944 siehe unten.) Hitler und seine engeren Gefolgsleute wollten den Krieg bis zum Untergang. Ohne den Durchhaltewillen der Offiziere (und Unteroffiziere) wären sie nicht weit gekommen, deren Einsatz war entscheidend. Der Satz: "Wir kapitulieren nie!", war kein leeres Wort.



Um die Ausgangsfrage zu beantworten: Wer wie die Offiziere der Wehrmacht den Krieg bis zum bitteren Ende mittrug und durchzog, ist zweifelsfrei „Täter“ und kein „Opfer“.





Waren sie Verbrecher?



Die Wehrmachtausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1945" von 1995 - 1999 und (korrigiert) 2001 - 2004 hat die weitverbreitete Ansicht, die Wehrmacht sei im Wesentlichen sauber geblieben, in Frage gestellt. Die Ausstellung wurde in vielen Städten in Deutschland und Österreich und später in englischer Version im Ausland gezeigt. Die daran anknüpfenden, kontroversen Diskussionen führten zur Klärung einiger Fakten; als allgemeiner Eindruck blieb hängen, dass Teile der Wehrmacht, im Osten insbesondere im Zuge einer wechselseitigen Gewaltspirale z. T. erhebliche bis schwere Schuld auf sich geladen hatten. (Einen guten Überblick gibt Sönke Neitzel, Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte, Propyläen, Berlin 2020, S. 216 ff.)



Der Einsatz von Teilen der Wehrmacht im Kampf gegen Partisanen ist ein heikles und schwieriges Thema nicht nur in den vom Krieg betroffenen Ländern sondern in Deutschland selbst. Verstörende Berichte über unverhältnismäßige Repressalien wühlen immer wieder die deutsche und internationale Öffentlichkeit auf. Oradour, Lidice und andere Orte sollen und werden nicht vergessen. Hier kann die Problematik nicht ausdiskutiert werden, aber es lohnt sich ein Blick in die Schrift von Carl Schmitt: "Theorie des Partisanen", Duncker& Humblot, Berlin 1963. (Carl Schmitt ist umstritten, aber es ist noch immer die beste deutschsprachige Studie zum Thema.)



Helmut Schmidt hat immer eisern darauf bestanden, als aktiver Offizier, auch im Einsatz an der Ostfront, erst nach Kriegsende von Verbrechen, insbesondere der Judenvernichtung erfahren zu haben. Müssen wir ihn und die vielen anderen Frontoffiziere und Soldaten verurteilen, weil sie nicht wahrnahmen, was hinter ihrem Rücken geschah? Weil sie und andere bis wenige Tage vor Kriegsende als Offiziere ihre Soldaten in ebenso aussichtslose wie tödliche Abwehrgefechte führten, obwohl sie wussten oder wissen mussten, dass der Krieg verloren war? Provozierend gefragt: Waren Helmut Schmidt und Richard von Weizsäcker und die anderen Offiziere und Soldaten Verbrecher, weil sie mit der Waffe in der Hand gegen Feinde kämpften, die wir heute unsere „Befreier“ nennen? Wohl kaum!



Zweifelsohne haben die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse nach 1945 dazu beigetragen, die Wehrmacht als verbrecherisch in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit zu diskreditieren. Der Holocaust spielte in den Nürnberger Prozessen nur eine Nebenrolle (dazu auch: Guntram von Schenck, Kriegswende 1941 und Holocaust, Schriften I, Radolfzell 2013, S. 235 ff. oder www.guntram-von-schenck.de). Die britischen und amerikanischen Luftangriffe auf explizit zivile deutsche Ziele mit bis zu 800 000 Toten und der Abwurf von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki blieben in Nürnberg außen vor. (Die `feine´ englisch-angelsächsische Art: die brennenden und verschütteten Kinder, Frauen und alten Männer sieht man nicht.) Die Vorgaben, die die Siegermächte nach dem Krieg den von ihnen „lizenzierten“ deutschen Medien machten, richteten sich u. a. gegen die Wehrmacht. Der denunziatorische Grundton hat sich bis heute erhalten. Selbstverständlich muss kritische Berichterstattung sein, unreflektierte, penetrant wiederholte Denunziation aber nicht.



Die deutsche Gewissensprüfung bleibt unerlässlich. Allerdings kann ein Blick über die Grenzen dazu beitragen, die mit der Kriegsführung im 20. Jahrhundert einhergehenden Begleiterscheinungen besser einzuordnen. Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA haben seit 1945 Erfahrungen in den antikolonialen Kriegen u. a. in Algerien, Indochina, Kenia, Malaysia und mit asymmetrischen Kriegen in Vietnam, Tschetschenien oder Afghanistan gemacht. Der brutale Einsatz von Gewalt dürfte in vielen Fällen dem der Wehrmacht kaum nachstehen. Das soll deutsche Kriegsverbrechen nicht klein reden, schattiert aber die deutsche Kriegsführung 1939 – 1945 neu. Soweit ich sehe, ist außerhalb Deutschlands fast nur noch die englische Geschichtsschreibung - mit zweifelhaften Motiven - an der Kriminalisierung der Wehrmacht interessiert.



In diesen Zusammenhang ist nicht zuletzt der von der UNO-Generalsekretär Kofi Annan als "völkerrechtswidrig" , d. h. als illegal verurteilte Angriffskrieg der USA und ihres Hauptverbündeten Großbritannien gegen den Irak 2003 zu nennen. Deutschland hatte diesen Angriffskrieg mit Frankreich und anderen Staaten abgelehnt. Es war ein Krieg mit verheerenden Folgen, der bis heute im Vorderen und Mittleren Orient Zerstörung, dauerhafte Destabilisierung und millionenfachen Tod verursacht hat. Wie man sich erinnert, wurden deutsche Militärs in Nürnberg 1945 wegen Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges zum Tode verurteilt und an den Galgen gebracht.





Helden?



Churchill hat sich im Mai 1940 im britischen Kriegskabinett nach der Niederlage Frankreichs und der verlorenen Schlacht von Dünkirchen für die Fortführung des Krieges mit dem Argument durchgesetzt: "...dass Nationen, die kämpfend untergingen, sich wieder erheben würden, jene aber, die kapitulierten, am Ende seien..." (zit. nach Ian Kershaw, Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg, München 2008, S. 65). Eine Statue Churchills steht heute in Paris auf dem rechten Seine-Ufer an zentraler Stelle neben dem Petit Palais mit der einzigen Inschrift: "We shall never surrender" (Wir kapitulieren nie). Wem der Bezug auf Churchill in diesem Zusammenhang nicht behagt, findet ähnliche Aussagen bei Clausewitz (Vom Kriege, VI, 26).





Churchill Statue Paris mit Inschrift



Der Abwehrkampf im letzten Kriegsjahr, die Schlacht um Berlin und der Kampf um den Reichstag zeigen, dass – um die Worte Churchills aufzunehmen – die Nation „kämpfend unterging“. Deutschland war nach 1945 besetzt und aufgeteilt, es hatte bis 1990 als souveräne Nation aufgehört zu existieren. Erst die Wiedervereinigung hat das Land wieder zusammengeführt und die Souveränität wiederhergestellt. Haben die deutschen Soldaten, die 1944/1945 den Abwehrkampf geführt haben, – um wiederum auf Churchill zurück zu kommen - die Voraussetzung geschaffen, dass Deutschland als Nation „sich wieder erheben“ würde? Die Geschichte ist erratisch, 1944/1945 war nicht absehbar, was mit Deutschland geschehen würde. Aber wenn Churchills Worte (oder von Clausewitz) eine historische Erfahrung aufzeigen sollten, waren sie dann nicht „Helden“?



Das mag für Deutsche zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine abwegige und absurde Frage sein, im Ausland ist sie das weniger. Die Narrative vom letzten heroischen Widerstand spielen in der Menschheitsgeschichte eine große Rolle. Ansprüche werden aus der Geschichte hergeleitet, die in die in die Zukunft weisen und ihrer Verwirklichung harren. Die Geschichte liefert dafür viele eindrucksvolle Beispiele: Spartaner an den Thermopylen, Serben auf dem Amselfeld, Juden in Masada, die Garde Napoleons in der Schlacht von Waterloo 1815: La Garde meurt, elle ne se rend pas! (Die Garde stirbt, sie ergibt sich nicht!) etc. Die Heldenverehrung, die sich um den letzten Widerstand rankt, ist eine allgemeine Erscheinung menschlicher Erinnerungskultur. Die Verklärung der letzten Kämpfer, die sich gegen eine erdrückende Übermacht stemmen, die lieber sterben als sich zu ergeben, ist menschliches Allgemeingut.





Kriegerdenkmal Hamburg Dammtor



Wer kann ausschließen, dass es beim deutschen Abwehrkampf des letzten Kriegsjahrs, beim Kampf um Berlin und dem Reichstag auf Dauer nicht auch so sein wird? Die seit Beginn des 21. Jahrhunderts nahezu weltweit zu beobachtende Wiederkehr nationalen Denkens deutet in diese Richtung: Nationale Narrative, aufgeladen mit Mythen und Legenden werden wieder geschichtsmächtig. Wer wissen will, was unter nationalem Vorzeichen erinnerungspolitisch möglich ist, sollte einen Blick auf die Inschrift des monumentalen Kriegerdenkmals am Hamburger Dammtor werfen, das Soldaten aus Hamburg und Lübeck gewidmet ist, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind: "Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen". Das Kriegerdenkmal am Hamburger Dammtor ist umstritten, aber es zeigt was möglich ist. (Das könnte eintreten, wenn die Nazi-Übermalung deutscher Patrioten und deutscher legitimer nationaler Interessen durch interessierte Kreise und Mächte allmählich abblättert.)





Wollen wir ein zusammenfassendes Bild der deutschen Offiziere und Soldaten der Wehrmacht zeichnen, so sind Pauschalurteile schwierig. Die überwiegende Zahl hat pflichtbewusst und tapfer bis zum Schluss entsprechend den damals - nicht nur in Deutschland - geltenden Vorstellungen für das Vaterland gekämpft. Der Kampf wurde trotz zunehmend mangelhafter Ausrüstung und Ausbildung mit hervorragender militärischer Kompetenz gegen eine erdrückende Übermacht fortgeführt. Es gab Exzesse und Kriegsverbrechen, die das Bild trüben, Grauzonen, die wir nicht verschweigen wollen. Aber sie sind nur ein Teil des Kriegsgeschehens, an dem auch die deutschen Kriegsgegner ihren Anteil hatten. Es waren unsere Väter, Großväter, Verwandte, Freunde, Bekannte, die im Felde standen. Fünfeinhalb Millionen sind gefallen. Wir wollen sie nicht vergessen. Sie waren ganz überwiegend gute Soldaten, die besten ihrer Zeit.





Kontinuität



Man staunt immer wieder, welche Biografien die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.



Bernd Freiherr Freytag von Loringhoven war als Stellvertretender Generalinspekteur zweithöchster Offizier der Bundeswehr, als er 1973 im Rang eines Generalleutnants ausschied. Seine militärische Laufbahn hatte er in der Wehrmacht begonnen, in Stalingrad war er ausgezeichnet worden. Von Juli 1944 bis April 1945 diente er als Adjutant der Chefs des deutschen Generalstabs, Heinz Guderian und Hans Krebs im Führerbunker in Berlin, wo er die militärische Lagebesprechung für Adolf Hitler mit vorbereitete. 2 Tage bevor Hitler Selbstmord beging, erlaubte dieser ihm sich abzusetzen (andere ließ Hitler hinrichten). Nach der Flucht mit einem Paddelboot über die Havel geriet Loringhoven in britische Kriegsgefangenschaft. 1956 trat er in die Bundeswehr ein.



Was für eine Karriere! Aus der Kommandozentrale der Wehrmacht im Führerbunker an die Spitze der (west-) deutschen Nachkriegsarmee. Er muss ein außerordentlich begabter Militär gewesen sein. Es spricht für die Nachwuchsförderung der Wehrmacht, dass sie diese Begabung erkannt, den jungen Offizier früh gefördert, in die entscheidenden Führungsaufgaben mit einbezogen und auf künftige Spitzenkommandos vorbereitet hat. Denkweise und Verhaltensmuster der preußisch-deutschen Militärkaste mussten Loringhoven als Spross einer baltischen Adelsfamilie mit Militärtradition nicht vermittelt werden, er gehörte dazu. Der Abwehrkampf gegen die alliierte Übermacht war im letzten Kriegsjahr 1944/1945 eine hoffnungslose Aufgabe, die bis zur Eroberung Berlins durch die Rote Armee Ende April 1945 durchgestanden wurde. Loringhoven war nicht nur dabei sondern mittendrin.



Die zögerliche Erteilung des Agréments (Zustimmung) für seinen Sohn Arndt als Botschafter in Warschau hat 2020 auch die Karriere Bernd von Loringhovens wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. In der Diskussion um den neuen Traditionserlass der Bundeswehr, den Ursula von der Leyen als Verteidigungsministerin 2017 ausgelöst hat, ist der Name Loringhoven – soweit ich sehe – nicht gefallen. Ziel der Diskussion um die Tradition der Bundeswehr war die Absage, ja die Widerlegung jeden Zusammenhangs der Bundeswehr mit der Wehrmacht, war die Betonung des absoluten Traditionsbruchs zwischen deutscher Vor- und Nachkriegsarmee. Wieweit das mit dem Erlass gelungen und im allgemeinen Bewusstsein jetzt verankert ist, steht dahin. Im Ausland wurde die Diskussion aufmerksam registriert.



Tradition ist nicht nur eine Sache von Kasernennamen oder des Sammelns von Devotionalien der Wehrmacht und deren Zurschaustellung. Der Verbannung von allem, was an die Wehrmacht erinnern könnte, haftet solange etwas von Exorzismus an, als eine inhaltlich ehrliche Auseinandersetzung mit Traditionssträngen deutschen Militärs ausbleibt, die in der Bundeswehr weiterleben. Was soll die Entfernung, dann Kontextualisierung eines Fotos von Helmut Schmidt in der von ihm gegründeten und nach ihm benannten Bundeswehrhochschule Hamburg? Er war nun mal ein Wehrmachtsoffizier, der bis zum Schluss, bis zu seiner Verwundung Mitte April 1945 gegen die Alliierten weiterkämpfte. Noch in seinen späten Jahren haftete dem späteren SPD-Bundeskanzler der Habitus eines Offiziers an, den er aus der Wehrmacht mitbrachte.



Wer nach Kontinuitätslinien zwischen Wehrmacht und Bundeswehr sucht, braucht nicht lang zu suchen. Wer hat denn die Bundeswehr in den 1950er Jahren aufgebaut? Es waren die Offiziere und Unteroffiziere der ehemaligen Wehrmacht. Sie haben die Bundeswehr in den wichtigen, entscheidenden Anfangsjahren geprägt. Die Wehrmacht ist damit ganz konkret Teil des Traditionsgepäcks der Bundeswehr. Die Kontinuität ist nicht zu leugnen, da hilft kein Exorzismus.





Tradition



Die Wehrmacht war – wie Sönke Neitzel nach Auswertung Tausender abgehörter Soldaten und Offiziere in alliierter Kriegsgefangenschaft ausführt (Deutsche Krieger, a.a.O., S. 190 ff.) - kein von NS-Ideologie durchtränkter Verband. Es waren vielmehr gemeinsame Vorstellungen von "Vaterland, Pflichterfüllung und Soldatentum", die die Wehrmacht prägten. In dieser militärischen Leistungsgesellschaft kämpften – so Sönke Neitzel - Soldaten mit den unterschiedlichsten politischen Haltungen nebeneinander. Millionen Wehrmachtsoldaten stammten aus sozialdemokratischen, kommunistischen oder tief katholischen Milieus, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden. Sie erfüllten loyal die ihnen anvertrauten militärischen Aufgaben. Die Wehrmacht wurde von der Truppe nicht als NS-Organisation wahrgenommen. Hitler schuf die Waffen SS, weil er der Wehrmacht weltanschaulich mißtraute.



Sönke Neitzel: Fritz Eschmann, geb. 1909, stammte zum Beispiel aus einer Arbeiterfamilie und war in der Weimarer Republik in der Sozialistischen Arbeiterjugend aktiv. 1936 wurde er Soldat und kämpfte als Infanterist seit dem Polenfeldzug an vorderster Front. Er war ein tapferer Soldat, stieg bis zum Hauptmann auf und wurde 1944 mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet. Nach dem Krieg saß er für die SPD im Bundestag. Erstmals in der deutschen Geschichte gab es keine Vorrechte für Offiziere. Alle Orden konnten nach halbwegs nachvollziehbaren Kriterien prinzipiell von allen erworben werden. Die Ausgezeichneten waren keine Fanatisierten, die sich mit einem feindlichen Panzer in die Luft sprengten, sondern Kämpfer und Truppenführer, die Erfolge vorzuweisen hatten. In der Binnenlogik der Institution Wehrmacht zählte vor allem militärisches Können. Soweit Söhnke Neitzel (ebd.).



Die militärischen Qualitäten der an Clausewitz geschulten deutschen Armeen von 1815 - 1945 sind ein Traditionsrahmen, auf dem die Bundeswehr – alle Exzesse vermeidend – aufbauen kann. Nur auf eigenen deutschen Traditionen, nicht in einer Art geschichtslosem Raum, kann mit Erfolg - durchaus korrigierend - Tradition weiterentwickelt werden. Das Ziel, das Gerhard von Scharnhorst, der preußische Heeresreformer und Zeitgenosse von Clausewitz formulierte, bleibt gültig: "den Geist der Armee zu beheben und zu beleben, die Armee und die Nation inniger zu vereinen". Tradition ist das Ergebnis langer Entwicklungen, die nicht beliebig unterbrochen oder willkürlich aufgepfropft werden können. (Wir sind nun mal, wer wir sind - steh´n wir doch dazu!) Die langen Kontinuitätslinien, die „longue durée“, die lange Dauer in der Zeit, die der französische Historiker Fernand Braudel aufgedeckt und beschrieben hat, haben auch Gültigkeit für die deutsche Militärtradition. Einen Kontinuitätsbruch nach 1945 hat es nicht gegeben, nur eine Unterbrechung und Korrektur.



Zur Begründung der Tradition der Bundeswehr eignet sich der Bezug auf den den 20. Juli 1944 nur bedingt. Als die Verschwörer um Graf Stauffenberg endlich zur Tat schritten - bis dahin waren sie aktiver Teil des deutschen Militärapparats - war es zu spät: Die endgültige Niederlage stand nach der Landung der Alliierten in Frankreich und dem Durchbruch der Roten Armee im Mittelabschnitt der Ostfront fest. Der Umsturz nach dem Attentat Stauffenbergs war unter den gegebenen Umständen extrem schwierig, aber er wurde auch ohne die notwendige Entschiedenheit durchgeführt (Ernst Jünger, Paris Juli 1944: "Man muss schießen!"). Die Verschwörer waren im Übrigen, wie sich beim Studium ihrer politischen Einstellungen zeigt, keineswegs Demokraten. Gleichwohl: die Verschwörer setzten ein wichtiges Zeichen, indem sie ihrem Gewissen folgten. Ihr Einsatz war ehrenvoll.



Problematisch ist der Verweis auf die Gefallenen des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr, die eine von der Wehrmacht getrennte Tradition begründen sollen. Jahrelang wurde bestritten und gestritten, ob dieser Einsatz überhaupt Krieg genannt werden darf. Taktgeber waren in Afghanistan politisch und militärisch stets die USA. Da die USA die Intervention in den Sand gesetzt haben, ziehen wir mit ihnen nach rund zwanzig Jahren unverrichteter Dinge wieder ab. Die Intervention war von Anfang an falsch angelegt (vgl. Guntram von Schenck, "Afghanistan - raus aus!", Schriften I, a.a.O., S. 148 ff.). Entscheidende Fehler konnten trotz zwanzigjährigem Krieg nicht ausgebügelt werden. Auf diesem Afghanistan-Einsatz und den zu Tode gekommenen deutschen Soldaten eine neue Bundeswehrtradition aufbauen zu wollen, wäre fatal.





Neue Lage 2020



Die internationale Lage zwingt dazu, die deutsche Sicherheitspolitik neu zu denken und auszurichten. Nicht nur auf das von Präsident Trump geführte Amerika war kein zureichender Verlass mehr, Frankreichs Präsident hat die NATO für "hirntot" erklärt und der britische Defence Secretary, Ben Wallace, forderte, dass Großbritannien sich darauf vorbereiten müsse, ohne US-Hilfe Kriege führen zu können (GUARDIAN: 12.01.2020). Auch Deutschland muss seine Sicherheitspolitik auf die neuen Gegebenheiten einstellen.



Wenn wir uns als Deutsche militärisch engagieren, dann nicht nach dem Motto "Germans to the front" (Deutsche an die Front), weil andere das gern hätten, sondern ausschließlich im eigenen "nationalen Interesse". Im ureigenen deutschen Interesse liegt heute der Schutz der Europäischen Union (vgl. meine Schriften "Europa und das deutsche nationale Interesse", Schriften I, a.a.O., S. 24 ff. und "Ukraine, Europa und das deutsche nationale Interesse", www.guntram-von-schenck.de oder Google Suchwort: "deutsches nationales interesse").



Unsere Streitkräfte müssen Deutschland in die Lage versetzen, notfalls auch Russland - gemeinsam mit EU-Partnern - Paroli bieten und abschrecken zu können. Soweit sind wir noch nicht. Für viele Milliarden Euro pro Jahr und steigenden Haushaltsmitteln muss mehr erreichbar sein als der derzeit inakzeptable, ja verheerende Zustand der Bundeswehr.



Das Vertrauen in die politische Führung ist die absolut zwingende Voraussetzung für eine funktionsfähige und ihren Aufgaben gerecht werdende Bundeswehr; ein Vertrauen, das die Nazis niemals verdienten. Wer von den Soldaten den Einsatz ihres Lebens verlangt, muss den höchsten Ansprüchen genügen, um dieses Vertrauen zu verdienen und zu erhalten.


Guntram von Schenck
November 2020



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